Salzburger Nachrichten am 12. Oktober 2005 - Bereich: Kultur
Einst umstritten, jetzt umarmt MARTIN BEHR
G ünter Brus hat ihn schon. Jetzt zieht Hermann Nitsch mit ihm gleich.
Spät aber doch werden die beiden Säulenheiligen des Wiener Aktionismus mit
dem Großen Österreichischen Staatspreis geehrt. Einst umfehdet, wild
umstritten, von staatlicher Seite verfolgt, verurteilt, doch nun,
Jahrzehnte nach der großen Erregung, zeigt sich das offizielle Österreich
versöhnlich, streckt die Hand aus. Ist das eine Katharsis beim Vater Staat, die jener gleicht, welche
Nitsch in seinem Orgien Mysterien Theater anstrebt? Wohl kaum. Ein Wagnis?
Mitnichten. Die Kunst des 67-jährigen Niederösterreichers stößt längst nur
noch bei realen wie imaginären Leserbriefschreibern in Wiener
Kleinformaten und beim heimischen Kunstbischof Egon Kapellari auf
Ablehnung. Ansonsten finden wir Nitsch auf Wein-Etiketten, in den
"Seitenblicken", in der Staatsoper und bald auch im Burgtheater. D a werden beim Träger eines biblischen Bartes "Bubenträume" wahr, da
dürfte auch das bei Nitsch ausgeprägte Gefühl des Verfolgt-Werdens
allmählich schwächer werden. Denn jetzt ist amtlich fest gestellt: "Nitsch
ist eine zentrale Figur des österreichischen Kunstschaffens, der in seinem
Werk grundlegende Fragen des Menschseins thematisiert." So huldigt
Kunststaatssekretär Franz Morak von jener ÖVP, die weiland indirekt Anteil
am Auf- und Ausbruch des Wiener Aktionismus hatte. Günter Brus, Hermann
Nitsch, Rudolf Schwarzkogler und der mit seinen sozialen
Gesellschaftsutopien später gescheiterte Otto Mühl hatten drastisch gegen
autoritären Katholizismus, rechtsstaatliche Borniertheit und anderen
kleinbürgerlichen Nachkriegs-Mief revoltiert. Heute zieren die Schüttbilder von Hermann Nitsch Politiker-Vorzimmer
und Chefetagen von Wirtschaft und Industrie: Die blutige Leinwand als
kostspieliges und doch allzu billiges Symbol für Offenheit, Toleranz und
avantgardistisches Kunstverständnis. E ine kunsthistorische Aufarbeitung der einst als "Uni-Ferkel"
verunglimpften Aufbegehrer steht indes - vor allem im internationalen
Kontext der "Fluxus"-Bewegung - noch aus. Von der Anklagebank in die Ruhmeshallen der Republik: Dieser Weg ist in
der österreichischen Historie kein Einzelfall, man denke nur an Egon
Schiele. Wenn Kreative vorpreschen, hinken Staat, Gesellschaft und Medien
hinterher. Nimmt ihre künstlerische und gesellschaftliche Brisanz
allmählich ab, werden sie eingeholt und umarmt. |