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Nie waren die Fenster zur Welt so weit geöffnet: Monitordramen, Videoplantagen, Ateliers, existentielle Werkzyklen und Künstlerlexika auf der Documenta 11

Noch nie war in der nun bald schon fünfzigjährigen Geschichte der documenta die Skepsis vorher so groß und verbreitet und die Zustimmung, ja eine zum Teil spontane Begeisterung nach der Eröffnung des Kasseler Ausstellungsparcours so einhellig. Die documenta-Verwalter haben seltenes Glück bei der Wahl ihrer Chefkuratoren. Nach den intellektuellen Dressurakten und der Therapie eines verfilzten Kunstbetriebs durch Cathérine David vor fünf Jahren haben nun Okwui Enwezor und sein Team das befreite ästhetische Denken und die soziale Phantasie aus der kargen Theorie herausgeführt und mit politischen und gesellschaftlichen Reizthemen und Konfliktstoffen aus aller Welt gefüttert (siehe auch F.A.Z. vom 8., 9. und 10. Juni) .

Nie waren in Kassel die Fenster so weit geöffnet. An die Stelle eines längst verkümmerten westlichen Monopolanspruchs in Sachen Kunstfortschritt und Kunstrepräsentanz ist zum ersten Mal reale Universalität getreten. Enwezor, Nigerianer mit amerikanischem Paß, setzte sich souverän über die niedrigen Kompromisse und Betriebskonventionen hinweg, die das Ausstellungswesen in unseren Breiten verfilzen ließen.

Bei Documenta 11 zählen nicht mehr Jux, Schock und Sex, Kommerz und Werbung. Es wird nicht auf Innovationen, auf Jugend- und Starkult und auf leichtfertiges Spiel mit den Zeitgeistlaunen gesetzt. Mehr noch: Diese Ausstellung bricht mit den Hierarchien, Systemen und Autonomien der Kunst selbst und überwindet damit endgültig das zurückliegende Jahrhundert. Enwezor hält sich nicht mehr mit den Evolutionen, Zielen, Errungenschaften und Privilegien der Kunstmoderne auf, er setzt sich über ihre Normen, Schulen und Selbstbezüglichkeiten hinweg und glaubt auch nicht länger an eine Auserwähltheit und exzeptionelle Befähigung von Künstlern.

Anstelle der üblichen Großkünstler fallen viele Teams und Gruppen ins Auge. Das Konzept ist materialistisch: Die Basis, die gesellschaftliche, ökonomische und politische Realität, aber auch die Geschichte beherrschen das Bewußtsein, beflügeln die Phantasie und diktieren die Inhalte und Aufgaben.

Leitthemen dieser Documenta sind die Migrationen, die prekären postkolonialen Konstellationen, die kulturellen Vermischungen und die Blickwechsel innerhalb einer neuen Weltgesellschaft. Alle neuralgischen Punkte, die grausamen Konflikte, welche die Veränderungen meist auslösen oder auch verhindern, werden ins Bild gerückt: der gemarterte Balkan, das Elend der Unterentwickelten und Ausgebeuteten, der Rassismus, der Völkermord in Ruanda, die Hölle einer südafrikanischen Goldmine, die südamerikanischen Militärdiktaturen, die Guerrilla-Kriege, der 11. September 2001, die im Mittelmeer versenkten Flüchtlingsschiffe mit ihren ungeborgenen Leichen, nach denen in Kampagnen der Unterwasser-Archäologie gefahndet wird. Die Erinnerung geht zurück bis zu Idi Amins Massakern oder zum Eichmann-Prozeß in Jerusalem. Favorisiert sind Künstler, deren Biographie und Kunstpraxis vom "Cross-over" geprägt sind. Enwezor, der Afrikaner in New York, verkörpert selbst dieses Programm: Er bringt den außereuropäischen Blick auf die westliche Kunst ein.

Mobile, fremde und ferne Perspektiven sind konstitutiv. Inder, in Afrika aufgewachsen und in London lebend, kehren zurück und erkunden Afrika. Eine Deutsche durchstreift den postkommunistischen Alltag Osteuropas, die Belgierin Chantal Akerman dokumentiert in sechs Triptychen und auf achtzehn Monitoren die Menschenjagd an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, ein Holländer ergründet das indische Kerala, ein Marokkaner erlebt den 11. September in New York, ein Türke verfolgt auf acht Monitoren den autistischen Blumenkult einer Engländerin quer durchs Jahr. Der Kongolese Kingelez erträumt sich ein phantastisches Modell-Manhattan, und eine Indonesierin, die in Berlin lebt, schuf eine filmische Typologie des zeitgenössischen mitteleuropäischen Menschen nach dem Muster von August Sander.

Der ethnographische Blick auf die Dritte Welt kehrt sich um und richtet sich auf uns. Man spürt das bizarre Faszinosum der viertausend Zahlen- und Noten-Kolonnen der Hanne Darboven, die die Rotundenwand des Kasseler Fridericianums über drei Etagen tapezieren, für das fremde Auge. Exotisch ist für den Blick von außen auch das Grimmsche Wörterbuch - von Ecke Bonk in Stichworten an die Wand projiziert und in seinen 32 Bänden und Lieferungen (1838 bis 1960) gerahmt. Hier etablieren sich aber auch Verwandtschaften zwischen der Bilder- und Zettel-Enzyklopädie des Afrikaners Bouabré und den endlosen, nächtlichen Blättern der schlaflosen Franko-Amerikanerin Louise Bourgeois.

Eindringlich zeigt die synkretistische Installation des Ateliers von Georges Adéagbo die ethnologische Adaption des Nordens durch den Süden: Hier werden europäische Zivilisationszitate, Bücher, Zeitungen, Porträts oder Fahnen idolisiert und fetischisiert - wie früher unverstandene afrikanische Requisiten in der europäischen Kunst.

Die Documenta 11 privilegiert Regionen dieser Welt ebensowenig wie Sicht- und Deutungshoheiten. Solch neue Abwägungen liegen durchaus im Zuge der klassischen Moderne, die kulturrevolutionäre Umwertungen vorantrieb und das Oberste zuunterst und das Unterste zuoberst kehrte. Doch läßt die Documenta die Polemik hinter sich. Sie zeigt reale Koexistenzen, tropisches Nebeneinander und produktive Widersprüche, denen sie auch im Blick auf zerklüftete Lebenswerke, die das Jahrhundert des Wahnsinns hinterließ, zur Geltung verhilft. So berührt die Atelier- und Lebensinszenierung des eigentlich wenig bedeutenden kroatischen Bildhauers Kozaric, die einen Slalom durch die Kunstsysteme dokumentiert - vom sozialistischen Trivialismus bis zur Ankunft im westlichen Modernismus. Die Documenta plädiert auch für eine Gleichberechtigung der Generationen und überläßt die chronischen Verjüngungszwänge den Strategen des Marktes und der Technologie. Das Durchschnittsalter der 118 Künstler dürfte bei Mitte Fünfzig liegen.

Früher sprach man in Kassel von einer "Weltsprache der Abstraktion". Heute ist daraus eine Internationale der Fotos, Videos und digitalen Bilder geworden. Darstellende wie abstrakte Malerei blieben europäische Emanationen. Die Medien ermöglichen heute ein Bilder-Esperanto. Hier brilliert die "Dritte Welt" der Inder und Chinesen. Das Genre hat sich künstlerisch noch kaum kristallisiert. Es artikuliert sich in Statements, Spots und Sketchen und ist nach allen Seiten offen - zum Film, zum Theater, zur Performance oder jounalistischen Bildreportage, wie sie die "Weltspiegel" und "Auslandsjournale" des Fernsehens bieten.

Experimentiert wird mit der Auffächerung des Geschehens und mit Montagen aus mehrteiligen nebeneinander-, hintereinander- oder ineinandergeschachtelten Monitoren. Damit kommen Erinnerungstechniken, Gleichzeitigkeiten oder fortlaufende Erzählformen ins Spiel. Komplexe Lebensinhalte oder auch Bewußtseinsanalysen können damit illustriert werden. Das Video erreicht aber schnell seine Grenzen, es kultiviert Oberflächen, ebnet die Unterschiede der Kulturen ein. Es taugt noch kaum zur tieferen Erforschung, zur Erkundung von individuellen Motiven, von Mentalitäten und gesellschaftlichen Hintergründen. Verglichen mit der globalen Videofolklore, erschloß im letzten Jahr Jean-Hubert Martins Düsseldorfer "Altäre"-Schau, eine authentische Multimedia- und Cross-over-Inszenierung zeitgenössischer religiöser Kulte, tiefere Blicke in einen unheimlichen und unberechenbaren kollektiven Vulkanismus.

Die Documenta entwickelt keinerlei technischen Fortschrittseifer, sie verspricht und predigt nirgendwo eine bessere Zukunft. In den urbanistischen Szenarien, die in den Parcours eingeflochten sind, relativieren sich gegenseitig Utopismus und Desaster. Dicht neben flimmernden Videoplantagen und Kinokabinetten sind die atavistischen Künstler-Environments plaziert. Auch der Agitprop taucht wieder auf: Er wird offenbar wieder gebraucht. Aufgerufen sind gleich zum Auftakt der amerikanische Veteran Leo Golub, dessen Stammbaum zurückreicht bis in die sozialkritische Protestkunst des "New Deal", und am anderen Ende das ätzende Zeichnungspanorama von Andreas Siekmann, welches das neoliberale Gesellschaftsmodell der neunziger Jahre in sechzehn Kapiteln als "rationalisierte Mythologie und wohldurchdachtes Delirium" (Bourdieu) agitatorisch auseinandernehmen und widerlegen will. Luis Camnitzer plakatiert nicht, sondern interpretiert in bitteren, unheimlichen Fotogravüren die Folterpraxis der Gewaltregime als ein inwendiges, sadistisch-masochistisches Ritual.

Der Erinnerung kommt in Kassel wieder zentrale Bedeutung zu. Enwezor scheint an Harald Szeemanns fünfte documenta (1972) mit ihren "individuellen Mythologien", ihren privaten Rückzugsmuseen und Sammlungshöhlen anzuknüpfen. In dieser Tradition sind dreißig Jahre später noch einmal Ateliers, Archive, Bibliotheken, Lexika, existentielle Werkzyklen und ganze Lebensinventare wie im Fall von Dieter Roth aufgeboten. In den Refugien, Traumhäusern, Werklabyrinthen und mumifizierten Depots - besonders suggestiv die schwarz eingestaubte Hinterlassenschaft der Israelin Chohreh Feyzdou, die im Iran aufwuchs und in Paris starb - werden die Integrität und Aura von einzelnen in einer sich verschleißenden Massengesellschaft verteidigt und konserviert. Enwezor schiebt die sperrigen Individuen keineswegs in Sonderabteilungen ab, sondern verknüpft sie auf inspirierte Weise in sein Ausstellungspanorama, das nicht im Patchwork steckenbleibt, sondern zum kunstvoll-vielstimmigen Teppich verwoben ist.

EDUARD BEAUCAMP

Die Documenta 11 in Kassel wird bis zum 15. September gezeigt, täglich von 10 bis 20 Uhr. Der Katalog kostet 55, der Kurzführer 15 Euro (Verlag Hatje Cantz).

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.06.2002, Nr. 135 / Seite 45

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