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Kunstberichte

Kommentarloses Knistern im Tanz

Ganz Wien ist im Ballfieber und in der Hermesvilla zeigt das Wien Museum Fotografien zu langen Ballnächten
Auch Balldiven brauchen einmal eine Pause. Eine Blitzaufnahme während des ACS Balls im Züricher Grand-Hotel Dolder im Jahr 1948. Jakob Tuggener Stiftung, Uster

Auch Balldiven brauchen einmal eine Pause. Eine Blitzaufnahme während des ACS Balls im Züricher Grand-Hotel Dolder im Jahr 1948. Jakob Tuggener Stiftung, Uster

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Als der berühmte amerikanische Fotograf Edward Steichen die Ausstellung "Post-war European Photography" 1953 zusammenstellte, stieß er auf den Schweizer Jakob Tuggener (1904–1988). Dessen obsessive Leidenschaft galt den Ballnächten der reichen bürgerlichen Oberschicht in Palast- und Grande-Hotels von St. Moritz und Zürich, später mischte er sich auch in Wien mit seiner Leica unter die Gäste des Opernballs.

Edward Steichen hielt Tuggener auch in seiner Welt umspannenden Fotoschau "The Family of Man" die Treue, Theoretiker wie Otto Steinert orteten ihn in seinem Kreis der avantgardistischen "subjektiven Fotografie". 1947 waren die Bälle erstmals im renommierten Fachblatt "Camera" abgebildet. 1951 war Tuggener mit seinen Kollegen erstmals im Züricher Helmhaus vertreten. Der Höhepunkt seiner Karriere aber waren die früher Sechziger, in denen er mit seinen Fotos in bekannten Modejournalen oder in der Kulturzeitschrift "Du" erschien.

Warum ist Tuggener heute nur mehr wenigen Insidern der Fotografie bekannt? Einerseits war es damals noch nicht üblich, einzelne Aufnahmen für Museen oder private Sammler zur Verfügung zu stellen. Doch es war andererseits auch die Abneigung des Künstlers gegenüber Texten von Spezialisten seines Fachs. Zwar schrieb er ab und zu selbst, misstraute aber jedem Kommentar, wollte Bilder nur visuell wirken lassen. Diese strikte Haltung war wiederum für die meisten Verleger von Fotobänden nicht opportun. Deshalb kam Tuggener über seinen ersten Band "Fabrik" (1943) nicht hinaus: Darin hatte er den Gegensatz von Mensch und Maschine thematisiert.

Traum des Künstlers

Der kompromisslose Fotograf träumte immer von einer Gesamtschau seiner Ballnachtserien von 1962 und 1963. Auch die vielteiligen großen Tafeln für ein mögliches Layout eines Fotobands, sogenannte Maquetten, sind erhalten, deshalb konnte nun ein Katalog nach seinen Vorstellungen von der Fotostiftung Schweiz und der Jakob Tuggener Stiftung erstellt werden.

Warum es bisher nie dazu kam? Ein Hindernisgrund waren natürlich die Dargestellten, die sich in subtilen, erotischen Situationen wiederfanden. Das ist trotz aller Diskretion spürbar, denn Tuggener hatte eine Vorliebe für die bloßen Rückenansichten und erschöpft niedergesunkenen Damen.

Als ein Züricher Galerist die Fotografien übernehmen wollte, scheiterten die Verhandlungen am Preis – auch die Vermarktung überließ Tuggener niemand anderem. Seine teils angeschnittenen Perspektiven, Unschärfen durch lange Belichtungszeiten (ohne Blitzlicht) und intimen Ausschnitte galten damals als expressiv, heute arbeiten viele junge Fotokünstler mit derlei Stilmitteln.

Er liebte nicht nur nackte Haut und tolle Frisuren, sondern vor allem teure Stoffe und auch die Gläserstillleben auf den Tischen. Selbst die Tristesse des fortgeschrittenen Abends und die hell erleuchteten Fassaden hat wohl kaum jemanden so fasziniert.

Seine erste Leica kaufte sich der ehemalige Maschinenzeichner 1934. Angeregt wurde er von den Nachtbildern der Stadt Paris, die der berühmte Kollege Brassai fotografiert hatte. Die Hermesvilla, einst Zufluchtsstätte und Repräsentationsraum der Kaiserin Elisabeth, verwandelt sich nun bis 12. März durch die Schwarzweißaufnahmen der Ballnächte Jakob Tuggeners in eine Festzone.

Wien Museum und die Fotostiftung Schweiz lassen breiten Interpretationsmöglichkeiten von Wahrnehmungslust freien Lauf. Die historischen Ballnächte sind aber natürlich auch Abbild der Gesellschaft. Sie zeigen ein vergangenes optimistisches Lebensgefühl der Nachkriegsära.

Was Wer Wo Wie

„Ballnächte. Fotografien von Jakob Tuggener“

Martin Gasser und Regina Karner (Kuratoren)

Wien Museum, Hermesvilla, bis 12. März 2006
Di. bis So.: 9 bis 16.30 Uhr

Rauschende Erlebnisse.

Donnerstag, 15. Dezember 2005


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