Im Grunde ist Masse unsichtbar wie Ra dioaktivität. Man sieht nicht,
wie schwer - oder wie träg - etwas ist, man sieht nur, wenn etwas gegen
das Schwerefeld gehoben wird, levitiert, erleichtert wird. Und man sieht
Spuren der Prozesse, denen sich die Erhebung verdankt: die gleißenden
Verbrennungsgase einer Rakete, oder die Strahlen auf christlichen
Darstellungen, göttliches Licht im Einsatz gegen die Schwerkraft. Dieses
Licht kann so gewaltig werden, dass es auf den Elevierten herabstürzt, aus
dem aufgerissenen Himmel, selbst pechschwer geworden, wie in der
"Stigmatisierung des hl. Franziskus" des Fra Angelico, einem - aus Rom
geholten - Glanzstück der Grazer Ausstellung.
Auch das Schwerefeld sieht man nicht, weiß nicht einmal,
wie es beschaffen ist; die Teilchen, die es verkörpern sollen, die
Gravitonen, sind bisher nur Objekte der Spekulation: Die Kraft, die uns am
gröbsten, stofflichsten scheint, ist nicht nur die schwächste der
grundlegenden Wechselwirkungen, sondern die im engen Sinn am wenigsten
materielle, zumindest für die Physik. Die hilft sich dann mit Feldlinien,
Wegweisern für die der Schwerkraft ausgesetzte Materie.
Antony Gormley zeigt Ähnliches in seiner Statue
"Capacitor": ein Körper in Eisen, gespickt mit Pfeilen, Vektoren, die in
ihn zielen, wie auf einen Winkelried, der inmitten der Schlacht die Pfeile
der Feinde an sich zieht. Oder wie in ein Schwarzes Loch? Die Physik hat
uns aus der Abstraktion heraus Bilder geschenkt: Auch das ist eine Lehre
dieser lehrreichen Ausstellung.
Noch beeindruckender ist eine andere Arbeit Gormleys:
"Critical Mass" im Hof des Priesterseminars. Gusseiserne, fast
gesichtslose Figuren, manche gefallen, auf dem Boden gekrümmt, andere
gehängt, auf Galgen an den Fenstern des ehemaligen Jesuitenkollegiums.
Hier meint man die Massen zur Erdmitte drängen zu sehen, hier scheint
Masse doch sichtbar zu werden, entgegen dem eingangs genannten Bildverbot.
Auch Giovanni Anselmo hat sich an dessen Überwindung
versucht: Doch seine Steinplatten sehen einfach schwer aus, weil man weiß,
dass Stein schwer ist. Ernüchternd, ähnlich wie die schlappen
Filz-Streifen von Robert Morris. Und auch die zwei Tonnen schwere, golden
glänzende, den Betrachter à la Lachkabinett verzerrende Skulptur von Anish
Kapoor wirkt primär durch ihren Willen zur Wirkung: Monströs kommt von
zeigen. Auch von Kapoor: "Stigmata", ein Ölbild als verkrustete Wunde, der
selbst der ungläubige Thomas den Glauben nicht versagen dürfte, so laut
schreit sie: Leg doch deine Hände in diese Wundmale!
Subtil und geisterhaft dagegen "Durante o Sono" von Rui
Chafes: Eine Kugel steht auf ihren Haaren, auf schwachen Bändern, die von
ihr ausgehen, denen man nie diese Stützwirkung zutrauen würde. So entsteht
die Wirkung einer Levitation, wie sie im Barock oft ganz realistisch
dargestellt wurde, als naiv-fromme Nachfolge der Himmelfahrten: ein paar
Meter über dem Boden, nicht völlig losgelöst, doch schon ein bisschen
erlöst. In der "Levitation des Hl. Joseph von Copertino" von Josef Adam
Mölck aus der Grazer Pfarrkirche St. Johann am Graben etwa: Der
schwebende Heilige wurde später zur Gänze übermalt, wackerer
aufklärerischer Skepsis folgend. - Die hat uns bis heute nicht mehr
verlassen: Solche Bilder reizen eher zum Schmunzeln als zur Meditation,
wie der Engelsturz des Kremser Schmidt, der unfromme Betrachter in seiner
naiven Gewalt an Heavy-Metal-Comics erinnert. Das wissen natürlich auch
die Gestalter der Ausstellung, ein Team um Johannes Rauchenberger vom
Kulturzentrum bei den Minoriten. Sie haben wildeste Gegenüberstellungen
nicht gescheut, wie von polymorpher Spiritualität getrieben. Entstanden
ist eine assoziative, eklektische Schau, die ihre Faszination höchstens
den ganz strengen Kunstfreunden versagen wird.
Ironie gelte ihm nicht als unernst, sagt Rauchenberger.
Das Erhabene und das Lächerliche dürfen friedlich nebeneinander stehen,
ineinander verfließen, darf man ergänzen. Joseph Beuys "Levitazione in
Italia" etwa: Hat sie nicht schon aus ihrer Pose heraus eine gewisse
strenge Würde? Oder wenn auf Giulio Licinios "Leichnam Christi, von Engeln
gehalten" (1571) die Engel aussehen wie manche Kellnerinnen in der
Südsteiermark, macht das die Einkehr beim Heurigen nicht reicher?
Durch Verdichtung in Überschneidungen und Endlos-Loops
hat der US-Videokünstler Paul Pfeiffer aus Aufnahmen aus
Basketball-Spielen eine quasi sakrale Handlung destilliert: Der Ball
lodert wie eine rote Sonne, sacht, fast zärtlich balanciert, erhoben von
den Händen der Spieler. Der Titel ist "John 3:16", wohl für die Stelle aus
Johannes: "So sehr hat Gott die Welt geliebt . . ." Wie
eine Vorarbeit dazu mutet Pfeiffers "Study for Morning After the Deluge"
an: die Sonne, wie sie durch den Horizont zittert, eine Initiation für
eine neue Welt nach der Katastrophe.
Wie tückisch die Objekte sein können, zeigt "Der Lauf der
Dinge", ein Video von Peter Fischli und David Weiss: Wie in einem
monströsen Schulversuch fallen 20 Minuten lang die Dinge aufeinander,
lösen einander aus, entflammen einander, aus puren Übermut, obwohl hier
nichts lebt. Eine Commedia dell'arte der Kausalität.
Direkt auf die Physik, die ja doch in der Erklärung der
Gravitation einiges, wenn auch nicht Endgültiges geleistet hat, beziehen
sich etwa die "Gravitational Vehicles" von David Rabinowitch. Das in Graz
gezeigte Vehikel ist Newton gewidmet und sieht aus wie aus einer
altväterlichen Lehrmittelsammlung: eine Kugel schwebt über einem hohlen
Zylinder. Mit solchen Apparaturen, nur weiter vergrößert (und verfeinert),
versuchen wohl heutige Physiker, Gravitationswellen zu messen. Vergeblich.
An eine erkenntnistheoretisch brisante Fußnote der
Physik-Geschichte spielt Attila Csörgös "Maelström Project" wohl an:
Zähflüssiges Öl rotiert in einem Topf, seine Trägheit zwingt es die Ränder
hoch. Von ähnlichen Experimenten ist Ernst Mach ausgegangen, als er
fragte, wo denn ein Zentrum sei, in Bezug auf das die Objekte des
Universums träg sind. Die Gestalter der Grazer Schau würden wohl sagen: in
Gott.
Jedenfalls schade, dass in der Ausstellung (noch?) keine
Erklärungen aus der Physik affichiert sind: Es würde sie noch reicher
machen. So kann man sich mit platonischen Körpern trösten: mit der
Sandstein-Kugel etwa, die James Lee Byars (1932 bis 1986) geschaffen und
im Titel als sein Grab ("The Tomb of James Lee Byars") bezeichnet hat. Ein
erschütterndes Sand-Gebilde.
Ein wenig reicher wird durch "Himmelschwer" auch der
touristische oder alltägliche Gang durch die Grazer Altstadt, in der
etliche zusätzliche Installationen stehen. So hat die finnische Künstlerin
Maaria Wirkkala goldene Leitern aufgestellt, oben auf dem Turm, weit über
den Köpfen. Man findet sie nicht gleich, um eine zu sehen, muss man, heißt
es, das Mausoleum besteigen, und wenn man sie findet: Nun, es sind halt
Leitern. Aber man sieht zumindest einen Tag lang alle Leitern in der Stadt
- und es gibt viele, in Graz wird gebaut - anders. Und man blickt
himmelwärts, krümmt den Nacken gegen die Schwerkraft.
Bis 15. Juni, Di bis So, 10 bis 18 Uhr. Der Katalog
ist nicht nur inhaltsschwer, sondern gravitiert auch deutlich in den
Händen.
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