diepresse.com
zurück | drucken
10.04.2003 - Ausstellung
Masse und ihre Aufhebung: Das unerträgliche Gewicht des Seins
"Transformationen der Schwerkraft" im Joanneum und in der Grazer Altstadt: eklektisch, aber erhebend.
VON THOMAS KRAMAR


Im Grunde ist Masse unsichtbar wie Ra dioaktivität. Man sieht nicht, wie schwer - oder wie träg - etwas ist, man sieht nur, wenn etwas gegen das Schwerefeld gehoben wird, levitiert, erleichtert wird. Und man sieht Spuren der Prozesse, denen sich die Erhebung verdankt: die gleißenden Verbrennungsgase einer Rakete, oder die Strahlen auf christlichen Darstellungen, göttliches Licht im Einsatz gegen die Schwerkraft. Dieses Licht kann so gewaltig werden, dass es auf den Elevierten herabstürzt, aus dem aufgerissenen Himmel, selbst pechschwer geworden, wie in der "Stigmatisierung des hl. Franziskus" des Fra Angelico, einem - aus Rom geholten - Glanzstück der Grazer Ausstellung.

Auch das Schwerefeld sieht man nicht, weiß nicht einmal, wie es beschaffen ist; die Teilchen, die es verkörpern sollen, die Gravitonen, sind bisher nur Objekte der Spekulation: Die Kraft, die uns am gröbsten, stofflichsten scheint, ist nicht nur die schwächste der grundlegenden Wechselwirkungen, sondern die im engen Sinn am wenigsten materielle, zumindest für die Physik. Die hilft sich dann mit Feldlinien, Wegweisern für die der Schwerkraft ausgesetzte Materie.

Antony Gormley zeigt Ähnliches in seiner Statue "Capacitor": ein Körper in Eisen, gespickt mit Pfeilen, Vektoren, die in ihn zielen, wie auf einen Winkelried, der inmitten der Schlacht die Pfeile der Feinde an sich zieht. Oder wie in ein Schwarzes Loch? Die Physik hat uns aus der Abstraktion heraus Bilder geschenkt: Auch das ist eine Lehre dieser lehrreichen Ausstellung.

Noch beeindruckender ist eine andere Arbeit Gormleys: "Critical Mass" im Hof des Priesterseminars. Gusseiserne, fast gesichtslose Figuren, manche gefallen, auf dem Boden gekrümmt, andere gehängt, auf Galgen an den Fenstern des ehemaligen Jesuitenkollegiums. Hier meint man die Massen zur Erdmitte drängen zu sehen, hier scheint Masse doch sichtbar zu werden, entgegen dem eingangs genannten Bildverbot.

Auch Giovanni Anselmo hat sich an dessen Überwindung versucht: Doch seine Steinplatten sehen einfach schwer aus, weil man weiß, dass Stein schwer ist. Ernüchternd, ähnlich wie die schlappen Filz-Streifen von Robert Morris. Und auch die zwei Tonnen schwere, golden glänzende, den Betrachter à la Lachkabinett verzerrende Skulptur von Anish Kapoor wirkt primär durch ihren Willen zur Wirkung: Monströs kommt von zeigen. Auch von Kapoor: "Stigmata", ein Ölbild als verkrustete Wunde, der selbst der ungläubige Thomas den Glauben nicht versagen dürfte, so laut schreit sie: Leg doch deine Hände in diese Wundmale!

Subtil und geisterhaft dagegen "Durante o Sono" von Rui Chafes: Eine Kugel steht auf ihren Haaren, auf schwachen Bändern, die von ihr ausgehen, denen man nie diese Stützwirkung zutrauen würde. So entsteht die Wirkung einer Levitation, wie sie im Barock oft ganz realistisch dargestellt wurde, als naiv-fromme Nachfolge der Himmelfahrten: ein paar Meter über dem Boden, nicht völlig losgelöst, doch schon ein bisschen erlöst. In der "Levitation des Hl. Joseph von Copertino" von Josef Adam Mölck aus der Grazer Pfarrkirche St. Johann am Graben etwa: Der schwebende Heilige wurde später zur Gänze übermalt, wackerer aufklärerischer Skepsis folgend. - Die hat uns bis heute nicht mehr verlassen: Solche Bilder reizen eher zum Schmunzeln als zur Meditation, wie der Engelsturz des Kremser Schmidt, der unfromme Betrachter in seiner naiven Gewalt an Heavy-Metal-Comics erinnert. Das wissen natürlich auch die Gestalter der Ausstellung, ein Team um Johannes Rauchenberger vom Kulturzentrum bei den Minoriten. Sie haben wildeste Gegenüberstellungen nicht gescheut, wie von polymorpher Spiritualität getrieben. Entstanden ist eine assoziative, eklektische Schau, die ihre Faszination höchstens den ganz strengen Kunstfreunden versagen wird.

Ironie gelte ihm nicht als unernst, sagt Rauchenberger. Das Erhabene und das Lächerliche dürfen friedlich nebeneinander stehen, ineinander verfließen, darf man ergänzen. Joseph Beuys "Levitazione in Italia" etwa: Hat sie nicht schon aus ihrer Pose heraus eine gewisse strenge Würde? Oder wenn auf Giulio Licinios "Leichnam Christi, von Engeln gehalten" (1571) die Engel aussehen wie manche Kellnerinnen in der Südsteiermark, macht das die Einkehr beim Heurigen nicht reicher?

Durch Verdichtung in Überschneidungen und Endlos-Loops hat der US-Videokünstler Paul Pfeiffer aus Aufnahmen aus Basketball-Spielen eine quasi sakrale Handlung destilliert: Der Ball lodert wie eine rote Sonne, sacht, fast zärtlich balanciert, erhoben von den Händen der Spieler. Der Titel ist "John 3:16", wohl für die Stelle aus Johannes: "So sehr hat Gott die Welt geliebt . . ." Wie eine Vorarbeit dazu mutet Pfeiffers "Study for Morning After the Deluge" an: die Sonne, wie sie durch den Horizont zittert, eine Initiation für eine neue Welt nach der Katastrophe.

Wie tückisch die Objekte sein können, zeigt "Der Lauf der Dinge", ein Video von Peter Fischli und David Weiss: Wie in einem monströsen Schulversuch fallen 20 Minuten lang die Dinge aufeinander, lösen einander aus, entflammen einander, aus puren Übermut, obwohl hier nichts lebt. Eine Commedia dell'arte der Kausalität.

Direkt auf die Physik, die ja doch in der Erklärung der Gravitation einiges, wenn auch nicht Endgültiges geleistet hat, beziehen sich etwa die "Gravitational Vehicles" von David Rabinowitch. Das in Graz gezeigte Vehikel ist Newton gewidmet und sieht aus wie aus einer altväterlichen Lehrmittelsammlung: eine Kugel schwebt über einem hohlen Zylinder. Mit solchen Apparaturen, nur weiter vergrößert (und verfeinert), versuchen wohl heutige Physiker, Gravitationswellen zu messen. Vergeblich.

An eine erkenntnistheoretisch brisante Fußnote der Physik-Geschichte spielt Attila Csörgös "Maelström Project" wohl an: Zähflüssiges Öl rotiert in einem Topf, seine Trägheit zwingt es die Ränder hoch. Von ähnlichen Experimenten ist Ernst Mach ausgegangen, als er fragte, wo denn ein Zentrum sei, in Bezug auf das die Objekte des Universums träg sind. Die Gestalter der Grazer Schau würden wohl sagen: in Gott.

Jedenfalls schade, dass in der Ausstellung (noch?) keine Erklärungen aus der Physik affichiert sind: Es würde sie noch reicher machen. So kann man sich mit platonischen Körpern trösten: mit der Sandstein-Kugel etwa, die James Lee Byars (1932 bis 1986) geschaffen und im Titel als sein Grab ("The Tomb of James Lee Byars") bezeichnet hat. Ein erschütterndes Sand-Gebilde.

Ein wenig reicher wird durch "Himmelschwer" auch der touristische oder alltägliche Gang durch die Grazer Altstadt, in der etliche zusätzliche Installationen stehen. So hat die finnische Künstlerin Maaria Wirkkala goldene Leitern aufgestellt, oben auf dem Turm, weit über den Köpfen. Man findet sie nicht gleich, um eine zu sehen, muss man, heißt es, das Mausoleum besteigen, und wenn man sie findet: Nun, es sind halt Leitern. Aber man sieht zumindest einen Tag lang alle Leitern in der Stadt - und es gibt viele, in Graz wird gebaut - anders. Und man blickt himmelwärts, krümmt den Nacken gegen die Schwerkraft.

Bis 15. Juni, Di bis So, 10 bis 18 Uhr. Der Katalog ist nicht nur inhaltsschwer, sondern gravitiert auch deutlich in den Händen.



© Die Presse | Wien