Das Belvedere rückt die Künstlerinnen des
Kinetismus in ein internationales Licht
Vernachlässigte Avantgarde
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Buntscheckiges Zeugnis einer vernachlässigten Avantgarde: Marianne (My)
Ullmanns "Komposition mit zwei Akten", um 1925, lässt Einflüsse des
Futurismus erkennen. Foto: Wien Museum
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Von Brigitte
Borchhardt-Birbaumer
In der "Wiener
Zeitung" schrieb Hans Ankwicz-Kleehoven 1924 mehrmals über den
Kinetismus. Dabei sah er nicht nur den Zusammenhang zum Kubismus und
Futurismus, sondern behauptete angesichts eines Gemäldes von Piet
Mondrian: "Das können die Kinetisten besser!"
Leider ist durch die Emigration und den Tod der wichtigsten
Künstlerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg fast vergessen worden, dass
Wien neben dem Jugendstil und dem Aktionismus der 60er Jahre eine
weitere, damals durchaus international gewürdigte Avantgarde entwickelt
hatte – den Kinetismus. 1922 wurde der Begriff für die dynamische Wiener
Avantgarde-Strömung von Leopold Wolfgang Rochowanski geprägt; erste
Bücher erschienen, internationale Sammlungen bis Amerika interessierten
sich für diese Bewegung, die von der damaligen Kunstgewerbeschule und
der Klasse für "Ornamentale Formenlehre" von Franz Cizek ihren Ausgang
nahm. Die heutige Angewandte hat in den 80ern begonnen, an die
vergessene Wiener Richtung zu erinnern; 2006 nahm sich das Wien Museum
des Phänomens an. 2009, in einer Weimarer Schau, begann man, die
Strömung im Licht der internationalen Moderne zu sehen. Eine
exemplarische Vernetzung gelingt nun dem Belvedere in seiner neuen
Ausstellung, die in Kooperation mit der Angewandten entstand.
Stil, der dem internationalen Vergleich standhält
In "Dynamik!" werden unter anderem Pablo Picasso, Fernand Leger,
Robert Delaunay, russische Konstruktivisten und italienische Futuristen
mit den weitgehend wenig bekannten Kinetisten konfrontiert.
Hauptsächlich waren dies übrigens Kinetistinnen, und sie halten der
internationalen Konkurrenz nicht nur stand, sie entwickeln im Konzert
der Kunstströmungen auch einen eigenen, gleichwertigen Stil. Kleehoven
hat recht behalten.
Im Belvedere hängte Kurator Harald Krejci nicht chronologisch, auch
nicht in einer langweiligen Reihe, sondern gruppierte sechs
Themenblöcke. Aus Übersee holte er Leihgaben, die das Bild ebenso
komplettieren wie ein Schwenk zu den Genres Tanz, Theater und Film.
Dabei ist Krejci der Nachweis eines Kontaktes von Friedrich Kiesler zu
den Futuristen gelungen; ihre Vertreter Fortunato Depero und Luigi
Russolo weilten länger in Wien. Ihr Einfluss findet sich besonders bei
My Ullmann. Das Leitmotiv der "Lokomotive", 1926 von Erika Giovanna
Klien gemalt, offenbart ebenso futuristische Bezüge.
Dass die Kunstgewerbeschule mit ihrer engen Verbindung zur Wiener
Werkstätte auch die Stoffindustrie über das Ornament erneuerte, stimmt
zwar. Wesentlich ist jedoch, dass der Anspruch des Lehrers Franz Cizek
die Malerei und auch plastische Entwürfe bediente – der
Kunstgewerbeaspekt tritt klar zurück. Über diesen wesentlichen Aspekt in
der Bewertung der zweiten Wiener Avantgarde herrschte bisher
Unklarheit. Kurator Krejci geht nun sogar so weit, die bewegte
Abstraktionstendenz der Kinetisten als eine frühe konzeptuelle Malerei
zu bezeichnen.
Unterschätzung ist unangebracht
Die Kunstgeschichte wird sich die Namen Otto Erich Wagner, Gerta
Hammerschmid, Georg Teltscher-Adams, Paul Kirning, Oskar Donau oder
Martha Diem einprägen müssen – neben bereits bekannteren Künstlern wie
Fritzi Nechansky, Friedl Dicker und Elisabeth Karlinsky sowie den
erwähnten Meisterinnen Klien und Ullmann. Ein Unterschätzen ist auch bei
den vielen namenlosen Plastiken nicht angebracht, die durchaus mit
Werken von Otto Gutfreund oder Oskar Schlemmer mithalten können.
Ausstellung
Dynamik! Kubismus/Futurismus/Kinetismus
Harald
Krejci, Patrick Werkner (Kuratoren)
Unteres
Belvedere
Bis 29. Mai
Printausgabe vom Donnerstag, 10.
Februar 2011
Online seit: Mittwoch, 09. Februar 2011 17:28:01