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‹Mhmmm, Pfauenbraten!› B.
verdreht die Augen. ‹Pfauenbraten schmeckt gut!› ‹Ach, wirklich?›, sagt
D. und nippt an ihrem Glas Mineralwasser. ‹Das Fleisch ist steinhart, hab
ich mir sagen lassen. Ausserdem bringen Pfauen Unglück.› Und dann, zu mir
gewendet: ‹Sag mal, gibt es keine Künstler mehr, die einfach Bilder malen,
die man an die Wand hängen kann? Färben Immigranten das Haar blond und
führen Pfauen spazieren…› ‹Äh…› ‹Also das mit dem Unglück, das hast
du falsch verstanden›, fährt B. dazwischen und fuchtelt mit der
Pizzakruste. ‹Pfauenfedern an den Hut stecken oder so, DAS bringt Unglück,
Schätzchen. Sagte meine Mutter schon. Venezianerin durch und durch. Aber
ein Pfau, der schmeckt gut. Meine Nachbarn tischten zu Weihnachten einen
auf. Haben ja fünf Kinder, wo kämen die mit einem dieser knochigen
Hühnchen hin?!› Ich ziehe die Schultern hoch und nehme einen tiefen
Schluck Mineralwasser. Es ist wieder Biennale. An der Via Garibaldi, wo
ohne Biennale das Fegefeuer lodert, ist die Hölle los. ‹Bedienung!›,
ruft der Schwedentisch hinter uns, ‹wir sitzen schon seit einer Stunde
hier! Wir wollen etwas bestellen!› ‹DIESE Gäste hier warten schon eine
Stunde und zwanzig Minuten!›, kreischt die Wirtin und dreht sich
ab. ‹Mein BIER!!!›, rufe ich in ihren Rücken. ‹Ja, ja, ja, kommt
alles. Es ist zum Verrücktwerden. Können Sie sich nicht einen Moment
gedulden?›
Wirtinnen, die auch nur zwei Hände
haben.
‹Sowieso: Warum musst du ein Bier trinken?›, keift B. ‹Und
das am Mittag! Kleiner Schweizer Säufer, was!?› ‹Mittag? MITTAG?›, gebe
ich zurück, ‹es ist halb vier!›, ‹Hört auf zu streiten›, sagt D.,
‹erzähl lieber, wie das mit dem Pfau ging und mit den blonden
Senegalesen›. ‹Also gut. Die Pfauen kommen aus Rom. Sie wurden während
fünf oder sechs Wochen an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt. Pfauen
sind ja eher scheu und zwacken dir in den Finger, wenn du zu nahe kommst.
Oder sie hüpfen auf einen Ast und schreien LeoK LeoK oder
so.› ‹Moment›, sagt B., ‹ich dachte, das sei bloss ein Pfau?› ‹Ja,
schon, aber es sind eigentlich drei in Venedig. Zwei Männchen und ein
Weibchen. Und drei Betreuer. Aber es ist immer nur ein Pfau auf der Gasse.
Er vertritt den Künstler. Er geht Pizza essen, stolziert durch die
Calle von Venedig und fährt Vaporetto. Wie es der Künstler getan
hätte, Francis Alÿs.› ‹Der hat aber einen merkwürdigen Namen für einen
Mexikaner›, sagt B. ‹Er ist Belgier und wohnt in
Mexiko-City.› ‹Aha.› ‹Und die haben den Pfau tatsächlich aufs
Vaporetto gelassen?›, fragt D. ‹Ja. Allerdings nur einen Weg. Zum Lido.
Dort sass er mit dem Vertreter der Galerie in einer Pizzeria. Der zweite
Vaporetto-Kapitän wollte ihn nur im Käfig mitreisen lassen. Er hatte
Angst, dass Mr. Peacock Passagiere zwickt. Dabei ist der so gefährlich wie
eine Taube.› ‹Und wie kam er zurück?› ‹Mit dem Taxiboot.› ‹Nobel,
nobel. Kostete sicher 60.000.› ‹80.000. Für Mr. Peacock, den Betreuer,
den Galeristen und den Fotografen. Francis erfindet kleine Geschichten. In
Mexiko-City hat er aus einem Magneten einen kleinen Hund auf Rollen
gebastelt und ist damit durch die Strassen spaziert. Am Abend war der Hund
voller Metallteile, Cola-Verschlüssen und Nää… Signora! Mein
BIER!› ‹Ja, ja, kommt, ich habe auch nur zwei Hände!› ‹Hm… äh… wo
war ich?› ‹Beim Hund.› ‹Ah, ja… Oder er hat einen ziemlich grossen
Eisblock übers Trottoir geschoben, bis nix mehr
übrigblieb.›
Pfauen, die Vaporetto fahren.
‹BEDIENUNG! Wir
haben Hunger!› ruft der Schwedentisch. ‹Wir sitzen schon seit einer Stunde
UND zwanzig Minuten hier!› ‹Na, bravo›, sagt B. ‹sie haben schon
dazugelernt.› ‹Sei nicht so bissig!› ‹Ah, da bist du ja!›, sagt der
Galerist, ‹ruf bitte die Ambulanz!› ‹Für wen? Was ist denn
passiert?› ‹Für T. Sie hat einen Asthma-Anfall.› ‹Oje! Warte, ich
ruf gleich an!› ‹T.? Ist das nicht die Kritikerin? Nein!, das ist ja
furchtbar! Warum denn das?›, fragt B. ‹Es ist beinahe zu einer
Schlägerei gekommen. Jemand hat M., als sie den Kleinen im Arm hatte, so
grob geschubst, dass sie über einen Tisch gefallen ist. Wo M. doch
Bauchweh hatte und letzte Nacht im Spital verbrachte. Darauf stand
Santiago auf und beschimpfte die Wirtin, der Koch kam aus der Küche und
beschimpfte S. Und T. kriegte einen Anfall.› ‹Hallo? Ambulanz? Wir
haben einen Notfall! Wo? Via Garibaldi! Ostaria M.… Ein Asthma-Anfall!
Können Sie jemanden… hallo?› Aus dem Augenwinkel sehe ich T. aus dem
Lokal torkeln, hinter ihr M. Der Galerist folgt ihnen. ‹Ambulanz?
Ambulanz?› Ich höre noch, wie ich weiterverbunden werde. Dann bricht die
Leitung ab. Ich wähle nochmals.
Galeristen, die 120.000 Lire pro
Blondschopf zahlen.
‹Das ist übrigens Santiago.› ‹Sehr erfreut›,
sagt B. ‹Sehr erfreut›, sagt D. ‹Sehr erfreut›, sagt Santiago, ‹T.
sagt, es gehe ihr wieder besser. Sie brauche keine Ambulanz.› Er folgt
T. ‹Das war Santiago Sierra. Er hat die Performance mit den 133
Immigranten durchgeführt.› ‹Aha. Woher kamen denn die alle?› fragt
B. ‹Die meisten aus Senegal, Bangla-Desh, China, aus Mazedonien und dem
Süden Italiens. Und zwei Dutzend Coiffeusen aus Milano. Sie arbeiten für
den Sponsor. Schwarzkopf. Sie haben den Teilnehmern die dunklen Haare
hyperblond gefärbt.› ‹Schwarzkopf?›, sagt B., ‹passt gut! Und wie habt
ihr die gefunden?› ‹Mit Hilfe der Biennale, telefonisch, auf der
Strasse. Santiago hat Dutzende auf der Strasse angesprochen. Und der
Galerist hat allen Teilnehmern beim Ausgang 120.000 Lire in die Hand
gedrückt. Bei Sierras Performances werden die Beteiligten immer bezahlt,
ob er eine Galerie mit 465 Personen füllt, und das Vernissagenpublikum
keinen Platz mehr hat oder Leute tätowieren lässt.› Das Handy piepst.
Ein SMS. ‹Liege am pool. Nach ayurvedischer massage jetzt fruchtsaft. Wie
gehts pfau? Willst du souvenir?› ‹Bring cruise missile oder eine
rikscha›, schreibe ich zurück. ‹Gibt es hier beides nicht. Suche
geknüpften makramee-pfau für dich.› Die Geschichte vom Pfau in Venedig
hat also schon Sri Lanka erreicht. Das Handy piepst. Ein Anruf von L.
Sie betreut zusammen mit Rocco, dem Pfleger, Mr. Peacock. ‹Hör mal, da ist
dieser Vertreter der Biennale, der redet wie verrückt auf mich ein. Ich
weiss nicht genau, was er sagt, er spricht nur italienisch, aber er ist
sehr böse. Ich glaube, er sagt, er wisse nichts von der
Performance.› ‹Das ist doch nicht möglich!? Die steht ja sogar im
Katalog! Kann ich mit ihm sprechen?› ‹Er ist schon wieder weg.› ‹Wo
seid ihr denn gerade?› ‹In den Giardini.› ‹Bedienung?! Zahlen,
bitte!› ‹Okay. Das Essen. Ein Liter Wasser. Und ein Bier›, sagt die
Wirtin. ‹Was? Ein Bier? Das habe ich doch gar nie gekriegt!› ‹Na,
na, na, Sie hätten doch etwas sagen können! Man darf doch wohl noch etwas
vergessen! Oder?›
Gregor Schneider und Maurizio
Cattelan Eine der interessantesten Arbeiten der diesjährigen Biennale
ist das Haus ‹ur› von Gregor Schneider (*1969) im Deutschen Pavillon. Seit
ungefähr fünfzehn Jahren baut dieser Künstler in seinem Geburtsort Heyth
bei Mönchengladbach permanent ein altes, dreistöckiges Haus um, verdoppelt
Wände, konstruiert neue Räume, verbarrikadiert Fenster und Türen und
schafft so ein abstraktes Gehäuse, das sämtliche kindlichen Urängste in
uns herauf-beschwört, vergegenwärtigt und physisch erfahrbar macht. Es ist
ein Haus, das unsere häusliche Existenz hinterfragt. Es ist aber auch ein
Erfahrungsraum im Zeitalter der Domestizierung von risikoreichen
Abenteuern wie Höhlenforschung, Bergsteigen, Kanalisations- oder
Dschungelexpedition.
Gregor Schneider trifft mit seinem Haus, an
dem er fortwährend weiterarbeitet, in uns zwei ganz unterschiedliche
Elemente: die klaustrophobische Angst vor dem Ungewissen und die
unstillbare Sehnsucht nach Entdecken und Verbergen. Grosse Teile dieses
Hauses wurden nun von Reyth (auch Geburtsort von Goebbels) nach Venedig
gebracht, um da im Deutschen Pavillion, der aus der Nazi-Zeit stammt,
wieder aufgebaut zu werden. Ein kleinbürgerliches Haus wurde also in diese
faschistische Repräsentationsarchitektur aus dem zweiten Weltkrieg
eingebaut und hat damit eine neue, drastische Dimension erhalten: Eine
häusliche Welt im Schosse einer diktatorischen Repräsentation. Eine Art
Wiederaufbau unter dem Dach der Zerstörung. Man denkt an all die
Schlupflöcher der Juden, die sich vor den Faschisten versteckten. Man
denkt aber auch an das Foltern von Andersdenkenden, die in unerträglichen
Räumen schmorten.
Diese grosse, gesellschaftspolitische Dimension
aber ist in diesem Werk, das Schneider vor ungefähr fünfzehn Jahren
begonnen hat, nicht inhärent. Sie ist vielmehr durch diese ungewöhnliche
Verschiebung entstanden. Dies scheint mir doppelt interessant zu sein,
weil es sozusagen auch zeigt, wie sich Künstler und Kurator gegenseitig
optimieren und präzisieren können. Erst der Entscheid des deutschen
Kommissärs Udo Kittelmann, Gregor Schneider mit seinem Haus in das Haus
Hitlers einzuladen, hat dazu geführt, dass aus einer intimen, hermetischen
und das Spektakel des Suspense bedienden Arbeit eine brisante,
gesellschaftliche, visuelle Fragestellung geworden ist. Dieser Umstand
wird zusätzlich durch das Faktum unterstützt, dass die Arbeit selbst kein
Produkt des Kunstmarkts ist und im eigentlichen Sinne auch nie
fertiggestellt sein wird. Sie ist kein Werk der Spekulation und, im
Unterschied zu vielen anderen Arbeiten mit gesellschaftspolitischer
Absicht auf der Biennale, nicht Gegenstand einer unmittelbaren materiellen
Wertschöpfung.
Maurizio Cattelans (*1960) greiser, polnischer Papst
Karol Woityla wird auf Szeemanns ‹Plateau der Menschheit› zwischen zwei
riesigen Öltanks und auf rotem Teppich von einem Meteoriten getroffen. Das
‹unfehlbare›, katholische Oberhaupt ist einer höheren (in ‹Wirklichkeit›
physikalischen) Macht zum Opfer gefallen, während die Umwelt belastenden,
fossilen Brennstoffe im Tank und der rote Teppich unberührt
bleiben.
Cattelans Arbeit ist perfekt inszeniert – suggestiv,
provokativ, ein wenig kitschig, mit scheinbarem Happy-End – und wird nur
durch seine ‹eigene›, in Originalgrösse aufgestellte Kopie des berühmten
‹Hollywood›-Schriftzugs aus Los Angeles auf einem Hügel bei Palermo (einer
Aussenstation der diesjährigen Biennale) übertroffen. Man muss da speziell
hinjetten, will man ihn wirklich sehen. Das sizilianische Leben, die Mafia
ist in Hollywood Film geworden und nun endlich zurückgekehrt, um Kunst zu
werden. Vielleicht dürfen wir für die nächste Venedig-Biennale nach Las
Vegas reisen, während Siegfried und Roy in Venedig gastieren…
Das Video und sein Enviroment
Niemals zuvor auf einer Biennale dominierte Video so stark. Andauernd
schob man Vorhänge zur Seite und tapste durch dunkle Gänge, um das
Licht der Projektion zu erblicken. Der schwarze Raum ist endgültig zum
Standard der Kunstrezeption geworden. Doch einige Künstler versuchen, sich
von dieser Präsentationsform zu lösen. Stan Douglas, Douglas Gordon oder
Doug Aitken brachen in den letzten Jahren schon ständig den
ein-Raum-ein-Beamer-Aufbau durch mehrere frei schwebende
Projektionsflächen. Doch auch hier wandelte man vorwiegend im Dunklen und
das Environment war immer noch ein rein videobasiertes.
In Venedig
versuchen jedoch einige Arbeiten, sich von der reinen Projektorebene zu
lösen und ein Ambiente anzubieten, das wieder klarer im Bereich der
Bildenden Kunst verankert ist.
Am deutlichsten zeigt dies der
kanadische Pavillon mit dem ‹Paradise Institute› von Janet Cardiff (*1957)
und Georges Bures Miller (*1960). In den Raum ist ein kleiner Kinosaal in
doppelter Ausführung gebaut. Zunächst ein echter mit zwei Stuhlreihen, auf
dem das Publikum wie in einer Loge Platz nimmt, um nun auf ein
verkleinertes Modell eines Kinosaales zu blicken. Man legt die Kopfhörer
an, das Licht geht aus und es ertönen Geräusche von Kinobesuchern auf der
Suche nach ihrem Platz. Dies geschieht so naturalistisch, wie man es sich
nur vorstellen kann. Der Film läuft an, und neben einem nimmt geräuschvoll
jemand Popcorn aus einer Tüte. Man weiss, dass man nicht zur Seite zu
schauen braucht, da sitzt sowieso nur jemand, der auch einen Kopfhörer
aufhat und auch überlegt, ob er jetzt vielleicht doch mal zur Seite
schaut. So bleibt man fast bewegungslos sitzen, horcht in die Kopfhörer
hinein, um den Ton des Filmes zu erfassen, der mit Versatzstücken
arbeitet, die eine Story zwischen roadmovie, action und grosser Liebe
andeuten. Projektion, Raum, Ton, alles verschmilzt zu einem noch nie
gespürten artifiziellen Erlebnis.
Das Gefühl des Dabeiseins
versucht auch Georgina Starr (*1968) zu vermitteln. Die riesige Projektion
zeigt Models auf einem Laufsteg, die in Gefahr schweben von einer Horde
Kinder in weissen plüschigen Kostümen ermordet zu werden. Und tatsächlich
ziehen die Kinder ihre Waffen und richten ein brutales Gemetzel an. Es
geschah offenbar genau auf jenem Laufsteg, der vor der Projektion
aufgebaut ist und von einem kanonenartigen Strahler in blutrotes Licht
getaucht wird. Die Leichen sind abgeräumt, aber die Fetzen der Kleidung,
die verlorenen Schuhe, die Blutspritzer künden noch davon. Der
Dokumentarfilm eines Ereignisses reizt mit der Fiktion, sich tatsächlich
am historischen Ort aufzuhalten.
Ganz anders löst Pierre Huyghe
(*1962) im französischen Pavillon den Bruch mit der herkömmlichen
Projektionstechnik. Er versetzt den Betrachter in eine doppelte
Modellsituation. Im Video zu sehen sind die Modelle zweier Hochhäuser, in
deren qaudratischen Fenstern nach rhythmisch erscheinenden Regeln das
Licht an und aus geht. Zunächst glaubt man, eine realistische
Architektursituation zu sehen, bevor die verschiedenen Änderungen des
Wetters und der Lichtverhältnisse einem zu sauber vorkommen, um echt zu
sein. Gleichzeitig fällt der Blick rechts neben der Projektion durch eine
Glasscheibe in den Nachbarsaal, in dem an der Decke ebenfalls weisse
quadratische Lichtfelder aufblinken. Es handelt sich zwar um zwei
eigenständige Arbeiten, aber die Verbindung von den Fenstern im Video zu
den Lichtfeldern daneben ist doch dominant. Die Lichtfelder an der Decke
stellen ein riesiges rudimentäres frühes Computerspiel dar, das von den
Besuchern gesteuert wird. Die aufleuchtenden Fenster im Video wirken auch
zufällig gesteuert. Mit jeder Vorführung wechselt zudem die Musik. Das
Ambiente scheint reduziert zu sein auf die berühmten Computerzahlenketten
aus Nullen und Einsen, entweder aus oder an, wenige oder viele. Die
Hochhäuser werden zu kleinen kubischen Maschinen, die in einer grossen
Maschine stecken. Der Betrachter sitzt nicht mehr vor einer Projektion,
sondern in einem Environment, in dem er das letzte realistische
Element zu scheint sein.
Uomoduomo von Anri Sala Mit
versteckter Kamera wurde er gefilmt, der Uomoduomo von Anri Sala (*1974).
Unmittelbar fällt der Blick beim Betreten der Ausstellungskoje auf die
grossprojizierte, vornübergesackte Gestalt. Da sitzt er alleine auf einer
hölzernen Kirchenbank, der Mann, in seinem zugeknöpften Wintermantel. Er
schwankt leise hin und her, versunken in eine eigene Welt, vom dämmrigen
Licht des Raumes umfangen und gleichzeitig dem registrierenden Zugriff der
Kamera preisgegeben. Was wäre, wenn er aufwachte und uns plötzlich
anschaute?
Anri Salas fixe Kameraeinstellung lässt den gefilmten
Realitätsausschnitt zum Bild werden, zu einem berührenden Porträt eines
Unbekannten, über dessen Leben wir allerdings bloss Vermutungen anstellen
können. Gerade weil jede klassische Erzählstruktur fehlt, weil nichts
Dramatisches geschieht, läuft ein vielschichtiger Film im eigenen Kopf ab
und ein Spekulieren und Fragen beginnt: Was treibt diesen Menschen in den
Dom? Wo kommt er her? Wo will er hin?
Die filmische Nahaufnahme, in
atmosphärischem Schwarzweiss gedreht, ist in ihrem Kern aber auch
zwiespältig. Sie gibt einen Moment des Rückzugs – in den schützenden
Kirchenraum und in die Selbstversunkenheit – dem voyeuristischen Blick
preis. Oder ist es gerade diese Nähe des Kameraauges, welche ihn irgendwie
unantastbar macht? Ist es gerade die Gleichgültigkeit und Ruhe des vor
sich hin Dämmerns, welche den Uomoduomo vor jeglicher Vereinnahmung
schützt?
Deimantas Narkevicius im
Litauischen Pavillon Litauen präsentiert in seinem Pavillon ausserhalb
der Gardini mit Deimantas Narkevicius (*1964) einen Vertreter der jüngeren
Generation litauischer Kunstschaffender, deren Themen eng mit der
Aufarbeitung der eigenen Geschichte im letzten Jahrhundert verknüpft sind,
beziehungsweise mit der Auseinandersetzung mit der postsowjetischen Ära
der letzten zehn Jahre.
Narkevicius zeigt drei neuere Arbeiten aus
den Jahren 1999–2001: zwei Super-8-Filme in Videoformat und eine
site-spezifische Lichtinstallation, basierend auf der Architektur des
Pavillons. Narrative Grundstrukturen dominieren in beiden Projektionen.
‹Legend Coming True› erzählt aus der Sicht einer Überlebenden des
Zweiten Weltkriegs die Geschichte des Jüdischen Ghettos in Vilnius.
Der extrem subjektive Zugang verweigert sich einer verabsolutierenden,
verallgemeinernden Interpretation – und leistet dadurch einen Beitrag zur,
so Narkevicius im Katalog, auch in Litauen lange unterbliebenen
Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
‹Energy Lithuania›
schliesslich steht in Zusammenhang mit einem auch in andern Kontexten
vermehrt wahrzunehmenden Interesse an modernistischem Design und Utopien
der fünfziger und sechziger Jahre. Über die Erzählung eines Arbeiters in
einem grossen Elektrizitätswerk in Litauen wird die Geschichte dieses
Industrie-Monuments der kommunistischen und postkommunistischen Zeit
dokumentiert. Momente wie Aufklärung und technologische Revolution werden
im Spiegel ihrer wechselnden ideologischen Rahmenbedingungen thematisiert.
Nicht zuletzt wegen dieser Arbeit gehört der litauische Pavillon zu den
Highlights der diesjährigen Biennale: mit beeindruckender Klarheit – ohne
zu polemisieren und ohne in Nostalgie umzuschwenken – geht Deimantas
Narkevicius hier mit Schlüsselthemen wie nationaler Identität oder
Erinnerung an Mythen der eigenen Geschichte um.
Keine neue Welle nicht-westlicher
Kunst Anlässlich der 49. Biennale von Venedig vor zwei Jahren sorgte
Harald Szeemann dadurch für Aufregung, dass er Werke von mehr als dreissig
Künstlerinnen und Künstlern aus China präsentierte. Die italienische
Presse fühlte sich provoziert, der Markt reagierte sofort, wie ein Gang
über die wenige Tage später eröffnete Art Basel bewies, und Szeemann wurde
von sich und anderen als Entdecker dieser Kunst aus dem fernen Osten
gefeiert.
Wer nach der starken chinesischen Präsenz nun damit
gerechnet hat, dass der Biennale-Kurator für seine aktuelle Inszenierung
vielleicht verstärkt Positionen aus Afrika oder dem südlichen Amerika
präsentieren werde, sieht sich getäuscht. Die grosse Woge mit Kunst aus
Ländern der sogenannt nicht-westlichen Welt, die in den vergangenen Jahren
manchen Ausstellungshafen in Europa erreicht hat, ist an Venedig
vorbeigeschwappt.
Ein paar wenige Künstler haben es dennoch auf das
‹Plateau der Menschheit› geschafft. Sunday Jack Akpan (*1940) aus Nigeria
zum Beispiel, der sich selbst als ‹Natural Authentic Sculptor› bezeichnet
und schon 1989 im Rahmen der Pariser ‹Magiciens de la Terre› seine stark
farbigen Betonfiguren zeigte. Mitten in den Corderie treffen wir auf
seinen ‹Chief›, eine lebensgrosse Thronfigur. In dieser Umgebung aus
Videokabinen und smarten Konzeptarbeiten allerdings wirkt die Plastik wie
ein bunter Vogel, handwerklich und ein wenig geheimnisvoll, exotisch eben
– so wie man das von einem afrikanischen Künstler erwartet. Weniger
auffällig sind da schon die Arbeiten der beiden Videodamen aus Südafrika:
Tracey Rose (*1974) hat mittels einer dreifachen Projektion eine
Bankettszene mit bizarren Figuren arrangiert, die seltsame Botschaften an
die Menschheit abgeben – eine Art Commedia dell’Arte. Und in den am
Computer generierten Videoanimationen von Minnette Vári (*1968) formen
Frauenkörper immer wieder neue heraldische Zeichen.
Der
gewichtigste Beitrag aus dem südlichen Amerika stammt von dem Brasilianer
Ernesto Neto (*1964): In den Artiglerie hat er ein märchenhaft schwebendes
Gewölbe aus Strümpfen konstruiert, aus dem phallusförmige Gebilde
herabbaumeln, die mit kiloweise gemahlenen Gewürzen gefüllt sind. Dass
mehr oder weniger identische Arbeiten von Ernesto Neto schon an den
verschiedensten Orten in Europa zu sehen waren, tut dem geruchlichen
Erlebnis keinen Abbruch, der Originalität vielleicht schon.
Unter
den Beiträgen aus dem fernen Osten hinterlässt die Arbeit des Japaners
Tasumi Orimoto (*1946) wohl den stärksten Eindruck: Er hat sich
entschlossen, sich um seine an Alzheimer erkrankte Mutter zu kümmern und
sucht nach neuen Formen, mit ihr zu kommunizieren. Mal bindet er sich
selbst Brote um den Kopf, mal steckt er seine Mutter in überdimensionierte
Kinderschuhe oder legt ihr Autoreifen um den Hals – es ist auch
Verzweiflung, die da Gestalt angenommen hat. Ebenso komplex sind die Werke
des Chinesen Hai Bo (*1962): In aufwändiger Recherchearbeit stellt er
Fotos aus der Zeit der Kulturrevolution nach. Er sucht die Arbeiter oder
Soldaten auf, die damals im Rahmen von Gruppenfotos abgelichtet wurden und
bringt sie, soweit möglich, in derselben Umgebung erneut zueinander – oft
sind einzelne Protagonisten unterdessen verstorben, in anderen Fällen hat
sich die Landschaft arg verändert oder es sind die Gesichter, die sich
verhärtet haben.
Klein und gross: A1-5316 und
Gregor Schneider Klein: Eine wirklich kleine Fotoserie von einem
Künstler aus Guatemala mit dem unaussprechlichen Namen A1-53167 alias
Aníbal Asdrubal López Juárez (*1964). Die Arbeit trägt den Titel 30 de
Junio und zeigt eine Militärparade, die jährlich stattfindet. Sieht
eigentlich alles ganz gewöhnlich aus, die vorbeimarschierenden Soldaten
mit Gewehren, leicht feindlich und grimmig. Nur befindet sich ein dunkler
Fleck auf dem Asphalt, der irgendwie die Parade versaut, weil ich weiss,
dass in der Nacht vorher ein paar Leute eine Ladung Kohle auf der Strasse
abgeladen haben. Diese subversive Aktion ist auf bescheidenen, von der
Qualität her nicht wahnsinnig guten Fotos zu einer Serie zusammengefasst
worden und erzeugt für mich gerade deswegen eine grosse Wirkung. Die
Militärparade wird vor meinen Augen demontiert, weil ich etwas weiss, was
die Soldaten nicht wissen, und so dem Ganzen eine kleine anarchistische
Kraft verpasst wird.
Gross: Der deutsche Pavillion mit dem Beitrag
von Gregor Schneider (*1969), weil er mal so richtig die Architektur
dieses deutschen Vorzeigehäuschen dedramatisiert und dekonstruiert hat.
Dies im konsequenten Stil: Die inwändig gebauten Räume seines importierten
Privathauses aus Rheidt sind physisch begehbar, man muss sich beklemmend,
beängstigend und neurotisch durch die Räume bewegen. Solche Wohnungen
kennt man aus Deutschland und nun werden sie noch einmal überphobisch
labyrinthisch wiedergegeben. Ich fühle mich wie ein Riese, kriege
schwitzende Hände und muss sofort wieder raus. Wieder draussen vor dem
prahlenden klassizistischen Bau erhält die Arbeit Schneiders eine enorme
Qualität durch die Komplexität von aussen bzw. innen, man hat sich zwar
gerettet aber weiss nun, wo und wie der Horror schlummert.
Moeslang/Guhl in der San Stae
Seit 1990 wird die barocke Kirche San Stae während der Biennale von
jüngeren und/oder noch nicht so etablier-ten Schweizer Künstlern bespielt.
Nach Adrian Schiess schlossen sich 1993 Christoph Rütimann, 1995 Christian
Marclay und 1997 Urs Frei an. In diesem Jahr wurde von der Eidgenössischen
Kunstkommission überraschend ein bis anhin kaum bekanntes St. Galler
Künstlerpaar ausgewählt.
Norbert Moeslang (*1952) und Andy Guhl
(*1952), eher aus der Musikszene als elektromagnetische Geräuschemixer,
als ‹Voice Crack› bekannt, nutzen die Kirche ausschliesslich als
Klangraum. Von einer grossen, wie ein Kleinod mitten im Kirchenschiff
platzierten Musikapparatur und sechs symetrisch aufgereihten Boxen werden
befremdliche, immer neu überraschende Kompositionen ausgesandt. Einmal
hüllt ein an Autobahnen erinnerndes Rauschen das ganze Kirchenschiff ein,
dann wieder gibt es ein Nebeneinander unterschiedlicher Klänge zu hören.
Ab und zu tritt eine von glucksenden Wasserlauten unterbrochene Stille ein
und spätestens dann wird man an den Canale Grande vor der Kirchentür
erinnert. Moeslang/ Guhl haben ein Hydrofon (Unterwassermikrophon, das
Druckwellen in Spannung übersetzt) ins Wasser gehängt, und von dort werden
Geräusche ins Kirchenschiff übertragen. Was wie eine hohe durchgehende
Linie klingt, wird als das durchfahrende 82er Vaporetto enthüllt und ein
Ton wie ein Möwenschrei stellt sich als das unsanfte Anlegen des Vaporetto
Nr. 1 heraus. Allerdings funktioniert diese Toninstallation nicht rein
dokumentarisch, die Künstler nehmen durch eine eigens entwickelte Software
zusätzliche kompositorische Manipulationen vor. – Vergleicht man die
‹Musik› von Moeslang/Guhl – übrigens eine der ganz wenigen auf Venedig
bezogenen Arbeiten – mit anderen, an dieser Biennale gezeigten
Soundinstallationen wie beispielsweise der von Granular=Synthesis im
österreichischen Pavillon, so könnte der Unterschied kaum grösser sein.
Überwältigen die Österreicher mit bis an Grenzen gehenden Vibrationen, die
den umgebenden Pavillon und auch den eigenen Körper zu zerstören scheinen,
so erzählen die Schweizer bilderreiche, poetisch befremdliche
Geschichten.
Mark Manders und Tracey Rose:
Nach-Erzählungen Während das ‹Plateau der Menschheit› – rein
semantisch irgendwo zwischen Hochebene und Präsentierteller gelegen – eine
episch grosse Linie beschreibt, entspinnen sich, wie blinde Passagiere im
riesigen Frachtraum, versteckt und irreduzibel die vielen kleinen
Geschichten. Zum Beispiel Mark Manders’ (*1968) Skulptur im italienischen
Pavillon: Eigentlich zeigt sie eine Installation aus Objekten, die in den
Status eines Modells auf 88% reduziert sind. Wie zwischengelagert unter
einer Plexihaube und auf palettartigem Sockel, liegt das kleine
nachtschwarze Plateau, eine Landschaft mit vertrauten Gegenständen, die
nur der feine schwarze Faden traumartig zu einer offenen Kette von
Assoziationen verbindet. Manders Denken kreist seit Jahren um
‹Selfportrait as a building›. Jedes Objekt, auch die grösseren
Installationen im holländischen Ca’ Zenobio in Dorsoduro, ist eine weitere
Projektion seiner Selbstbiografie, die sich in Partikel auflöst.
Oder dann: Tracey Rose’s (*1974) Video-Travestie von Leonardos
Abendmahl. Auf einer digital fragmentierten Bühne wiederholen sich
Bruchstücke einer Erzählung über weibliche Stereotypen zwischen Domina und
Schattengestalt, mit harten Schnitten, schrillen Farben und aufdringlich
blinkenden Flashes. In Metropolen wie Johannesburg sind neue Mischformen
der Narration entstanden, die das lange Filmepos des Arsenale
aufbrechen.
Vaut le Voyage: Luc Tuymans ‹Mwana
Kitoko› Empathie – ein neuer Begriff kursiert dieser Tage in der
Kunstwelt. Gemeint sind Anteilnahme und Einfühlungsvermögen, Offenheit für
die Anliegen anderer, kurz ein Interesse an all dem, was die weissen
Westen von uns übersatten Wohlstandsbürgern unschön befleckt. Soziale
Ungerechtigkeit und politische Verantwortung sind wieder vermehrt in den
Fokus des internationalen Kunstgeschehens geraten. Kuratoren und Künstler
geben sich gerne gesellschaftspolitisch engagiert – erstere holen Kunst
aus weniger privilegierten Ländern, die zweiten thematisieren eine
problemdurchzogene Welt. Dass die im Zuge der Globalisierung neu erwachte
Moral nicht selten zur Doppelmoral gerät, die empatische Geste mithin
genau jene imperiale Haltung zum Ausdruck bringt, die zu überwinden man
eigentlich angetreten ist, das führt uns der belgische Maler Luc Tuymans
(*1958) mit einer Eindrücklichkeit vor Augen, die ihresgleichen sucht.
Inhaltlich orientiert sich das Bilderensemble, das er im Belgischen
Nationalpavillon inszeniert hat, an der kolonialen Vergangenheit seines
Landes. Wie verblassende Fotografien wirken seine mit präzisem Kalkül
gemalten Bilder. Der belgische König in weisser Marineuniform, ein
afrikanischer Politiker, Leopardenfelle, ein ausgestopftes Nashorn in der
Museumsvitrine – unterkühlt und grandios zelebriert Tuymans seine
malerische Könnerschaft, strapaziert die Spannung zwischen Bildreiz und
problemorientiertem Subtext aufs Höchste.
Die Bildinhalte
verblassen ob der verführerischen Effekthaftigkeit dieser Malerei. Die
angesichts einer problemdurchzogenen Welt offensichtlich unzulänglichen
Mittel entsprechen unserem eigenen Unvermögen zu tatsächlicher
Anteilnahme. ‹Mwana Kitoko› von Luc Tuymans erzeugt ein diffuses Unbehagen
und damit eine Betroffenheit, die nachhaltiger nicht sein könnte.
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