14.10.2001 19:19:00 MEZ
Zwischen Selbstsucht und Selbstflucht
"Reisen ins Ich" in der Sammlung Essl

Klosterneuburg - Wie es doch wäre, wenn man sich selbst auf den Kopf sehen könnte? Das fragte sich nicht nur Leonce in Büchners Stück.

Zur Selbstbeschau braucht man zumindest ein Gegenüber, eine spiegelnde Oberfläche. Caspar David Friedrich forderte ein, dass der Maler nicht allein das malen sollte, was er vor sich sehe, sondern auch, was er in sich sehe. Der Mathematiker und Physiker Ernst Mach spielte 1886 "die Selbstbeschauung Ich" weiter, indem er sich das rechte Auge zuhielt und zeichnete, was er, auf einer Chaiselongue liegend, von sich sah: kein Kopf, die zeichnende Hand und die stark verkürzte Sicht auf seinen Körper.

In diese Tradition des Selbstbildnisses, die einer Selbstbefragung gleichkommt und die so alt ist wie die (westliche) Kunstgeschichte, fügt sich auch die aktuelle Ausstellung der Sammlung Essl: Reisen ins Ich mit dem vieldeutigen Untertitel Künst- ler / Selbst / Bild. 33 Werke der Sammlung und 45 Leihgaben haben die Kuratoren Gunda Luyken und Siegfried Gohr herausdestilliert, in sechs "Kapitel" sortiert: Selbstbeobachtung, Narzissmus, soziale Rollen, KünstlerInnen, Selbstironie und das Anderssein.

Das Abbild nach Jahren des (posthumanen) Körperdiskurses in der Kunst wieder als besonders aktuell auszurufen, wie beim steirischen herbst, verwundert ein wenig: die x-te Renaissance der Malerei - einer realistischen, die sich in Menschenporträts festmacht. In Klosterneuburg spielt das auch mit, kreist jedoch alleine um das ebenso simple wie rätselhafte Ich.

Dort lassen historische Beispiele anschauliche Vergleiche mit der Gegenwart erstellen. Sie zeigen, dass die Ästhetik und die technischen Mittel sich ändern, die Fragen aber dieselben bleiben. Carl Molls Selbstbildnis bleibt in klassischer Pose, während Martin Kippenberger mit übertriebenem Pathos grell und messiasgleich neben einem Schiff posiert (Das Floß der Medusa) oder sich ironisch in einer Fotoserie, in welcher er Fotos vor sich hält, mit seiner persönlichen Geschichte auseinander setzt.

So präzise oder überzeichnet grimassierend etwa Arnulf Rainer sein Konterfei beleuchtet, so bar jeder konkreten Aussage ist Siegfried Anzingers vor schwarzem Hintergrund isolierter Kopf, eine der irritierendsten Arbeiten "weg vom Ich". Die Nabelschau, das Verbeißen ins eigene Zeug sind Sichtweisen, die sich der Künstler "nicht unbedingt antun wollte". Günter Brus thematisiert Die Ratlosigkeit der Selbstflüchtlinge.

Liegt in der Verweigerung der Reiz, so bestimmt(e) in der feministisch orientierten Kunst das Bild der eigenen Person wesentlich den "eigenen" Weg einer Selbstdefinition, einer neuen Einschreibung in die Geschichte - oder auch in die Architektur, wie es Valie Export demonstriert. Nicht umsonst hängen auch Maria Lassnigs Körpergefühlsbilder bedeutsam am Beginn der Ausstellung. Neuere Entsprechungen dazu kommen u. a. von Uli Aigner oder von der jungen, absurd-witzig mit Schnee hantierenden Kanadierin Tanja Kitchell. Selbstbild - Ende nie.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 10. 2001)


Quelle: © derStandard.at