23.09.2003 17:33
Konzeptkunst über die Zeit gerettet
Hanne Darboven, eine Gründerfigur der Konzeptkunst, zeigt im Wiener MuMoK
ihre Bibliothek aus Abschrieben, Summen, Formularen und Querverweisen - Foto
Wien - Nun ist es auch schon wieder lange her, dass Hanne
Darboven sich individuelle mathematische Prinzipien zurechtgelegt hat, um die
Zeit zu fassen: Seit Ende der 60er-Jahre visualisiert sie deren Lauf, füllt in
aller Disziplin Blätter mit Daten, aus denen sie eigenwillig formulierte
Quersummen zieht, diese in Indizes zusammenfasst, als geometrische Zeichen oder
auch Noten interpretiert, wiederholt, überlagert, spiegelt. Und mit historischen
Inhalten, mit Text- oder Bildzitaten, Privatfotos und Zeichnungen konfrontiert,
derart zu einer neuen Lektüre zusammenfasst: kommentarlos, ergebnislos,
offen.
Ums Zählen geht es ihr, nicht um die Summe, ums Schreiben, nicht
um Vermittlung. Dazu schreibt sie von Hand, vor allem verkettete "u"-Bögen, die
mittlerweile riesige Bibliotheken füllen. Bibliotheken nach James Joyce,
Bibliotheken einer Literatur der Unlesbarkeit (selbst wenn man sich den hoch
anstrengenden Akt des Dechiffrierens, des Nachvollzugs des Darboven-Wegs zur
Quersumme antut).
Minimal Art war zu wenig
Hanne Darboven
war mit dabei, Konzeptkunst zu entwickeln. Und praktiziert sie immer noch. Sol
Lewitts oder Carl Andres Minimal Art war ihr zu wenig, das Unfassbare sollte
doch an das konkrete, das unvermeidlich Persönliche, ans allgemein Historische
geknüpft werden. Bei aller Obacht darauf, nichts vorzugeben, Interpretation und
Perspektive nach allen Richtungen hin offen zu halten.
Bleibt, dass
Hanne Darboven sich kulturgeschichtlichen Themen stellt. Und dass sie unendliche
Regale voller Bücher produziert, Bücher ohne Botschaft, Bücher ohne Zahl und
Resultat. Darbovens Aufschriebe können Dritten dazu dienen, den Akt der
Konstruktion, des Buchmachens, des Zeitfesthaltens, des
Sich-der-Existenz-Vergewisserns zu nähern – dem Wesen von
Struktur.
Zentrale Rolle des Buchs
Die Ausstellung im
Museum moderner Kunst – eine Übernahme vom Westfälischen Landesmuseum für Kunst
und Kulturgeschichte, Münster – verweist erstmals derart massiv auf die zentrale
Rolle des Buchs im Werk von Hanne Darboven.
Ein kommentiertes
Werkverzeichnis, eine Art Anleitung zum Nachvollzug wird mitgeliefert: "Mit
,querschnitt‘ bezeichnet HD die Quersummierung eines Datums nach einem Prinzip,
das sie seit 1968 praktiziert. Dabei behandelt sie zweistellige Zahlen der
Tages- und Monatsangaben als Einheit, und die Jahreszahl wird in zwei Ziffern
aufgespalten und separat addiert. Das Jahrhundert fällt weg. Der 29. April 1941
ist beispielsweise dementsprechend addiert als 29 + 4 + 4 + 1 =
38."
Aktenberge
Wenn man das dann in die "Tagesrechnung"
stellt und dabei die ausgewählten Verweise auf Georg Christoph Lichtenberg oder
Picasso oder die "Urzeit/Uhrzeit" oder Rainer Maria Rilke beachtet, kommt man
rasch auf ein Vieles. Und davon zurück wieder zu einer Hauptarbeit Darbovens:
Ein Jahrhundert (Bücherei), 1970/71. Die ist seit 1979 in der Sammlung des Mumok
und enthält potenziell schon all das, was jetzt an weiteren Aktenbergen zur
Schau gestellt wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 24. 9.2003)