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Kunstberichte

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Die zehnte Muse

(cai) Hallucigenia? Wer soll denn das sein? Die imaginäre Freundin vom Yeti? Oder die Zwillingsschwester der Fata Morgana und Mutter vom quirligen Hirngespinst, diesem Lauser? Oh, jetzt hab ich’s: Es ist die zehnte Muse. Moment: Es gab doch nur neun. Die zehnte müssen die alten Griechen und Römer also wohlweislich verdrängt haben. Womöglich weil sie die Schutzgöttin der weißen Mäuse und der rosaroten Elefanten ist (die ja nur den Betrunkenen und Unzurechnungsfähigen erscheinen).

In Wahrheit ist sie die Muse der Paläontologen und des Martin Walde. Weil sie Erstere und Letzteren zu bizarren Artefakten inspiriert hat (obwohl sie seit 500 Millionen Jahren ausgestorben ist). Beim Versuch, die wahre Anatomie dieser winzigen Meereskreatur namens Hallucigenia mittels Fossilien zu ergründen, haben die Paläontologen quasi ein Fabelwesen erschaffen, das nie endgültig zu fassen ist. Zwei ihrer Rekonstruktionsvorschläge hat Walde, der dem mysteriös monströsen Charme vom "Einhorn unserer Zeit" auch erlegen ist, in "Stimmungslampen" übersetzt. In einer herrscht ein aufregendes Unwetter. Ein Blitz durchzuckt sie dramatisch.

Die grotesken Würmer aus Glas mit ihren Stacheln und Tentakeln würden im außerirdischen Ensemble von "Star Wars" auch nicht sonderlich auffallen und sogar als Paradiesschnecke durchgehen, als fluguntauglicher Verwandter der Paradiesvögel. Und wieso müssen sie leuchten ? Walde: "Würdest du’s anschaun, wenn’s nicht leuchten würde?" Ja, aber nicht so lang. Theatralisch glühen sie auf schwebenden Glasplatten. Ein Unterwasseridyll aus dem Kambrium. (Wo bleibt bloß das Plankton-Mobile?) Und die Moral von der Geschicht’? Trau keinem Paläontologen. Denn auch er ist ein Künstler (und hat viel Fantasie).

Galerie Krinzinger

(Seilerstätte 16)

Martin Walde

Bis 5. April

Di. bis Fr. 12 bis 18 Uhr

Sa. 11 bis 16 Uhr

Die Oooooh-Sache

(cai) Sie glauben, nur Opern kann man konzertant aufführen? Nein, das geht auch mit Orgasmen. Sie müssen sich doch an die Sally erinnern, die dem Harry in einem Fastfood-Lokal eine Vorstöhnung, äh: Vor stellung gegeben hat. Aber die hat nur simuliert . Dorothy Iannones Stöhnsolo ist echt (und in der retrospektiven Schau in der Galerie Steinek unüberhörbar). Die 1933 geborene sexuelle Freiheitskämpferin, deren Leben so lustvoll ist wie ihre Kunst, hat 1975 ihr Gesicht während dieser Oooh-Sache gefilmt und das Video in eine bunte Box gesteckt. Auch in ihrer naivobszönen, ziemlich autopornografischen gemalten Welt, wo offenbar das Gesellschaftssystem des "Koitalismus" herrscht, ist sie ausdauernd wie eine Fruchtbarkeitsgöttin. Die Bilder sind schamlos ornamental (die Herzerln find ich seltsamerweise gar nicht peinlich), nymphoman und dabei völlig "unschuldig". Eine Naturgewalt, die über unsre Augen hereinbricht.

Galerie Steinek

(Eschenbachgasse 4)

Dorothy Iannone

Bis 18. April

Di. bis Fr. 13 bis 18 Uhr

Sa. 11 bis 15 Uhr

Die Macht der Erbse

(cai) Wenn ich mein karges Diät-Mahl auf einem klitzekleinen Teller deponiere, wirkt es so gigantisch, als könnte ich davon eh satt werden. (Der Kleine-Teller-Effekt.) Richard Nonas ist aber eher einer, der eine Erbse, ein Maiskorn und zwei Rosinen auf einem Fleischteller platziert, damit einem so richtig bewusst wird, wie riesig der Teller doch ist (und der Hunger). Beim Hubert Winter verteilt er gezielt sehr handliche, radikal minimale Objekte, die dadurch eine "magische" Aura kriegen. So groß war die Galerie schon lang nicht mehr. Sein Atelier überschwemmen die Dinger dagegen, als wären sie eine biblische Plage, und lassen die Angst vor dem Zuwenig gar nicht erst aufkommen. Weniger ist mehr, und mehr ist auch viel.

Galerie Hubert Winter

(Breite Gasse 17)

Richard Nonas

Bis 12. April

Di. bis Fr. 11 bis 18 Uhr

Sa. 11 bis 14 Uhr

Dienstag, 25. März 2008

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