Matthew Barney, Superstar der US-Kunstszene, träumt in
seinem gewaltigen „Cremaster“-Zyklus das Kino neu. Das Filmmuseum
zeigt ihn nun erstmals integral.
Ein Schlagzeuger drischt auf sein
Instrument ein, traktiert Blech und Batterie, den Puls gefährlich
beschleunigend. Dabei ist der Mann ganz für sich, allein in einem
leeren Raum: ein Berserker der Kunst, ein Solipsist des Klangs. Das
wüste Stakkato seiner Darbietung bricht sich an der radikal
kontrollierten Form des Bildes, das er abgibt. Der Arbeitsraum ist
ein kahles Zimmer, das ein Studio sein könnte, aber auch eine
Galerie, in der eine maschinell bewegte Kamera den einsamen Trommler
umkreist und beäugt: eine lebende, lärmende Skulptur.
Die
Szene stammt aus Matthew Barneys „Cremaster 2“ (1999), einem Film,
der von vielem erzählt (von Amerika und dem Roadmovie, von dem
Entfesselungskünstler Harry Houdini und dem Mörder Gary Gilmore, von
Trauma, Tankstellen und Bienenschwärmen), dabei aber auch seltsam
unzugänglich bleibt. Matthew Barneys beunruhigende Arbeit findet an
der Schnittstelle zwischen Exzess und Kontrolle statt, am schmalen
Grat zwischen Maßlosigkeit und Kalkül.
Der Star-Status des
Künstlers, der, vielfach preisgekrönt, seit Mitte der neunziger
Jahre in den bedeutendsten Museen der Welt ausgestellt hat, ist zu
einem guten Teil (ähnlich wie bei Jeff Koons) auf seinen hohen
Pop-Appeal zurückzuführen: Kunst und Privates – Barney ist Ex-Model,
Ex-Athlet und derzeit mit dem isländischen Popstar Björk liiert –
sind bei ihm nicht auseinander zu halten, das eine scheint das
andere zu speisen, voranzutreiben.
Neobarock
Andererseits geht Barneys
künstlerische Energie über die Simplizität des Pop weit hinaus. Der
fünfteilige „Cremaster“-Zyklus des US-Künstlers, exakt 400 Minuten
lang, ist ein Opus magnum, das nun erstmals komplett in Österreich
zu sehen ist. Das Filmmuseum in Wien zeigt ab 18. November alle fünf
Teile des Werks, das die New Yorker Galeristin Barbara Gladstone
produziert hat, die übrigens auch die Filme der Künstlerin Shirin
Neshat finanziert. Barney arbeitet an einer Form des Neobarock,
einer produktiven Mutation des Kinos: Die „Cremaster“-Filme,
entstanden zwischen 1994 und 2002, erzählen – praktisch ohne Worte –
Geschichten, die so fremd sind, dass einem allein der Versuch, sie
durchdringen zu wollen, den Atem raubt.
Barneys Visionen
kreisen um Zeppeline und Fabelwesen, um geschmolzene Vaseline und
synthetischen Sex, um Zombies, alternative Zahnchirurgie, vor allem
aber: um die Kunst selbst. Die Vieldeutigkeit der Arbeit Matthew
Barneys beginnt schon beim Problem ihrer Klassifikation: Ein
bildender Künstler stellt, ausgehend von der Performance-Kunst und
der Bildhauerei, bizarre, teure Videoarbeiten für den Museumsraum
her. Sind das dann noch Filme? Nicht im herkömmlichen Sinn
jedenfalls: Als Filmemacher, der die Anatomie und die Geologie als
thematische Basis seiner Kunst bezeichnet, geht Barney zwangsläufig
auf Distanz zum Unterhaltungskino seiner Zeit. „Als ich 1994 mit der
Serie begonnen habe“, stellt er fest, „dachte ich besonders an die
land art, wie sie etwa Robert Smithson praktiziert hat. Es ging mir
darum, meine Arbeitsweisen auf bestimmte Landschaften zu übertragen,
also Skulptur und Ort übereinander zu blenden.“
Dass Barney
Medizin studiert hat, ist seiner Arbeit anzumerken: Der Begriff
Cremaster bezeichnet jenen Muskel, der die Hoden hebt und senkt;
auch die zahllosen anatomischen Allegorien, die Barneys Werk
aktiviert, zeugen davon. Er selbst sieht die „Cremaster“-Arbeit als
„eine Art sexuell getriebenes Verdauungssystem“. Barney generiert
seine Filmfieberträume (er spricht von „interner Logik“) aus einer
Reihe wissenschaftlicher und kultureller Hypothesen – und erprobt
deren Gültigkeit an der eigenen Vorstellungswelt und am eigenen
Körper. Die „Cremaster“-Serie handelt mit (und von) Mythologie,
Autobiografie und Biologie.
Athletisch,
ästhetisch
Die Schauplätze sind Barneys eigentliche
Stars. „Cremaster 1–5“ lebt in und von: einem Football-Stadion in
Idaho; der Linie der Rocky Mountains von Kanada bis zu den
Salzebenen in Utah; dem New Yorker Chrysler Building; der Isle of
Man und dem alten Gellert-Bad in Budapest. „Ich wollte immer einem
Objekt oder der Architektur oder gar einer geologischen Formation
eine Filmhauptrolle geben. Wenn man den Dingen und den Orten die
Würde gibt, die man sonst nur Filmdarstellern zugesteht, dann können
auch sie deren emotionale Qualität entwickeln. Das interessierte
mich: das emotionale Gewicht von einer Situation statt von
Schauspielern tragen zu lassen.“
Das Athletische und das
Ästhetische greifen in „Cremaster“ ineinander. Als eine seiner
stärksten Prägungen nennt Barney die Kameraarbeit der
Football-Berichterstatter. „Ich habe früher selbst Football
gespielt; so ist mir der visuelle Stil der NFL-Filme zur zweiten
Natur geworden. Er definiert die Art, in der ich meine Figuren
zeige: die Perspektiven der Kamera, den scheinbaren Entzug der
Schwerkraft. Das ist ein sehr amerikanischer, sehr sentimentaler
Stil, der vor allem dem Pathos des Athleten gilt.“
Die Frage,
ob er „Cremaster“ lieber im Kino oder im Museum zeige, beantwortet
Barney gewohnt zwiespältig: „Letztlich ergibt die Arbeit als
Installation am meisten Sinn. Das ist näher an der ursprünglichen
Idee. Ich sehe die Filme als Text, der Skulpturen produziert.
Natürlich kann man diesen Text am besten in einem Kino studieren, wo
man ihn von Anfang bis zum Ende sehen und in bester Tonqualität
hören kann. Aber die Beziehung des Objekts zum bewegten Bild ist mir
noch wichtiger.“
Hollywood ist allgegenwärtig in Barneys
Werk, vor allem der (fehlbare) Glamour des alten US-Kinos:
„Cremaster 1“, choreografiert nach Art des Filmemachers Busby
Berkeley, stellt eine Beziehung zum Kino der dreißiger Jahre her, zu
einem Kino der unnatürlichen Ordnung. „An den Berkeley-Musicals
interessiert mich der Versuch, ein Bild perfekter Symmetrie zu
entwerfen – und das natürliche Scheitern daran. Berkeley imitiert
auch die Systeme des menschlichen Körpers, bezieht sich auch auf das
Scheitern des Körpers an der Symmetrie. Darum geht es im
,Cremaster‘-Zyklus eigentlich: dass ein System ein Gleichgewicht
herzustellen versucht, das es nicht erreichen kann.“
„Cremaster 1–5“:
Filmmuseum, 18. bis 22.11. Info unter http://www.filmmuseum.at/ und Tel. 01/533
70 54.