Im allgegenwärtigen Kultur- und
Festspielland Österreich mit seiner wunderbaren touristischen
Umwegrentabilität bin ich mir des Frevels der Frage, ob wir Kunst
eigentlich brauchen, durchaus bewusst. Die westliche zeitgenössische
Kunst und ihre Interpreten scheinen insgesamt mehr an Strukturen und
Ordnungen interessiert zu sein als am Hervorrufen von Gefühlen und
deren Offenhalten als unverzichtbarer Horizont des Menschlichen. Warum
möchte die heutige Kunstszene eher den Verstand als das Gefühl
ansprechen und wie steht es um aktuelle Gegenbewegungen?
Der englische Humanist Francis Bacon beginnt seinen Essay "Of Love"
(1625) mit der Warnung, dass die Leidenschaften besser bei den Künsten
als im Leben angesiedelt werden sollten, weil man nicht gleichzeitig
lieben und weise sein kann: "The stage is more beholding to love than
the life of man. For as to the stage, love is ever matter of comedies
and now and then of tragedies; but in life it doth much mischief,
sometimes like a Siren, sometimes like a Fury" . ("Die Bühne ist für
die Liebe geeigneter als das Leben der Menschen. Denn auf der Bühne ist
die Liebe immer ein Anlass zu Komödien, und gelegentlich auch zu
Tragödien; im Leben jedoch richtet sie viel Schaden an, manchmal als
Sirene, manchmal als Furie.") Diese Arbeitsteilung war bereits in
Platons Ideen über den Staat formuliert worden und wurde seit der
Renaissance zum Programm und seit der Aufklärung zum Erfolgsmodell
westlicher Zivilisation.
Moderne Rationalität
Der Kunst und dem sozialen Leben waren damit getrennte Plätze
zugewiesen. Beim Nachdenken über die Frage, was den Westen und was
Europa ausmacht, kommt daher das Wort "Leidenschaft" in der Regel nicht
vor. In den bürgerlichen und in den marxistischen Gebrauchsformen der
Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts ging es im Wesentlichen um die
Rationalisierung und damit Bändigung von Leidenschaften. Dies sollte
nach Max Weber alle Lebensbereiche, auch Kunst und Kultur, umfassen: ".
. . was letzten Endes den Kapitalismus geschaffen hat, ist die
rationale Dauerunternehmung, rationale Buchführung, rationale Technik,
das rationale Recht, aber auch nicht sie allein; es musste ergänzend
hinzutreten die rationale Gesinnung, die Rationalisierung der
Lebensführung . . ." Als Beweis der Erfolge der Rationalisierung nannte
Weber 1910 in einem Aufsatz "Über die rationalen und soziologischen
Grundlagen der Musik" die Polyphonie und den Kontrapunkt.
Dabei ist "Leidenschaft" eine Voraussetzung für die Staatsform der
Republik; politische Denker von Thomas Paine bis Jean Jacques Rousseau
erklärten sie zur notwendigen Tugend in einer gerechten politischen
Ordnung. Das "heiße Sprechen und Denken" von möglichst vielen Bürgern
wurde seit dem 18. Jahrhundert zum Prinzip und Motor gesellschaftlicher
Erneuerung. Aufforderungen zur "Zivilcourage" und zur "Partizipation"
sind ein Ausdruck dafür, neben den Mut, den eigenen Verstand zu
verwenden, auch den Mut zum eigenen Handeln zu setzen.
Für die Kunst bedeuteten die Entscheidungen der Renaissance,
Aufklärung und Moderne, wie der postmoderne Soziologe Daniel Bell
formulierte, dass in der westlichen Kultur eine immer spürbare Trennung
von Gesellschaftsstruktur (Wirtschaft, Technologie, Politik) und Kultur
(symbolischer Ausdruck von Sinngehalten) entstand, somit eine Trennung
von Zivilisation und Kultur. Die Gesellschaftsstruktur wurde von
funktionaler Rationalität und Effizienz bestimmt, die Kultur von der
"Rechtfertigung der Steigerung und Überhöhung des Selbst" . Die
künstlerische Moderne hat sich dem nicht entzogen, sondern verstand
sich als eine "antibürgerliche Kultur", die die Herrschaft der
Rationalität kritisch begleitete.
Aber sie ging noch einen Schritt weiter. Sie reagierte im 20.
Jahrhundert auf die Brüchigkeit eines Konzepts bedingungsloser
Rationalität durch eigene Rationalitätsangebote. Die Moderne, als
Konzept rationaler politischer Ordnung, wird heute allerdings zunehmend
relativiert, wie dies in den Begriffen der Post-, Nach- oder Zweiten
Moderne zum Ausdruck kommt. Damit wird auch in der Kunst zunehmend
fraglich, ob das moderne Prinzip, dass Kunst vor allem an der
Konstruktion der Realität mitarbeitet, noch eine angemessene Reaktion
auf die Veränderungen darstellt.
Was bedeuten diese historischen Anmerkungen für das Thema der
Leidenschaften in der Kunst der Gegenwart? Als Historiker orientiere
ich mich zunächst an den beiden "Großtheorien", die im Westen nach
1989, nach dem Ende des Kalten Krieges, entstanden sind.
Sind wir, wie Francis Fukujama vermutet hat, am "Ende der
Geschichte" angelangt, oder hat Samuel Huntington Recht, der seit
Jahren im "Kampf der Kulturen" die Ordnung der Zukunft sieht? Dazu gibt
es viele politikwissenschaftliche Analysen, die mehr oder wenig
überzeugend erklären, dass beide nicht Recht haben. Ich möchte anhand
einiger Bemerkungen zur Kunst Hinweise geben, warum es zum Verständnis
von Kunst und Kultur dennoch gut täte, beide Bücher zu lesen – oder
nochmals zu lesen.
Die These von Fukujama bedeutet, dass das Paradigma der Moderne –
Kunst sei historisch und daher zum Fortschritt fähig, und sie sei ein
fester Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklungen und damit weniger
der Emotion als der Ratio verpflichtet – nicht mehr ohne weiteres
hilfreich ist. Die These von Huntington bedeutet für die Kunst so
ziemlich das genaue Gegenteil. Kunst schafft die Mythen der
Differenzierung oder macht sie zumindest wieder glaubwürdig. Sie ist
daher prinzipiell mehr der Emotion als der Ratio verbunden und kann
dies nur unter Verlust ihres Publikums leugnen.
Die Funktion der Kunst
Ich beginne mit einigen wenig gewagten Vermutungen:
1. Kunst wird derzeit als Ordnungs- und damit Differenzierungsfaktor
in einer globalisierten Welt immer gefragter. Globalisierung bedeutet
weniger Chancen zur Differenzierung zwischen Gemeinschaften, außer im
Bereich der spezifischen kulturellen Traditionen, die bis zum "Kampf
der Kulturen" der Zukunft stilisiert werden können. Der Abbau
politischer, ökonomischer und physischer Grenzen scheint den Bedarf an
neuen und alten "Grenzziehungen" zur Sicherung von Identität notwendig
zu machen. Künstler sind heute in Ost- und Südosteuropa wieder Akteure
und Betroffene von Identitätspolitik, die ihnen Leidenschaft abverlangt
oder sie zumindest dazu motiviert (die Beispiele reichen vom
mitteleuropäischen Diskurs in den Romanen von Peter Esterhazy über die
Rekonstruktion von "Galizien" in den Essays von Juri Andrucho-wytsch
bis zur Serbien-Euphorie bei Peter Handke).
2. Kunst wird aber gleichzeitig zum Bestandteil globaler
Erlebnisvorstellungen, die tendenziell keinerlei Rücksicht auf das
Lokale nehmen (z. B. Mozartprojekt 2006: ein Dirigent leitet mittels
digitaler visueller Übertragung gleichzeitig an 200 Orten der Welt
unterschiedliche Orchester).
3. Kunst baut und rekonstruiert mit jedem Projekt ihre eigenen
Räume/Identitäten, die sich nicht unbedingt mit anderen Realitäten
messen wollen (als Beispiel kann die Ausstellung "Blut und Honig" über
zeitgenössische Kunst vom Balkan dienen). Polemisch gewendet, endet
diese Entwicklung bei der Welt als "künstlerischer Wille und
Installation". Dies gilt bereits seit der Konzeptkunst der sechziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es muss kein Objekt mehr geben, es
reicht die Idee, und verständlich wird sie erst durch den Kommentar,
der zum Eigentlichen der Kunst wird. Rudolf Burger spricht von der
"Kunstbegleitrhetorik": "Nur ihre Begleitrhetorik hält sie als Kunst
über Wasser."
4. Kunst wird immer politischer, weil die Politik immer weniger
unbestrittene Ordnungsmöglichkeiten anbieten kann – aber im Unterschied
zu den Vorstellungen der Aufklärung oft ohne großen moralischen
Anspruch. Jeder Kurator baut seine subjektive Ordnung, jeder Intendant
baut sein Festival als eigene Welt, wie etwa das Motto der Europäischen
Kulturhauptstadt 2003 – "Graz fliegt" – verdeutlichte. Der moralische
Anspruch der Künstler der 68er-Generation und der im Widerstand
entstandenen "politischen Kunst" von Künstlern hinter dem ehemaligen
"Eisernen Vorhang" ist nicht mehr zu spüren.
Die neue Qualität politisch motivierter Kunst liegt darin, dass sie
das moralische Urteil weitgehend dem Publikum überlässt. Ich gebe ein
Beispiel aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt. An den
Checkpoints in Israel müssen arabische Männer ihren Bauch freimachen,
um zu beweisen, dass sie keine Waffen und keinen Sprengstoff tragen.
Vor zehn Jahren hätte vermutlich ein Fotokünstler daraus ein Projekt
mit moralischer Empörung gemacht. Kürzlich wurde in einer israelischen
Galerie in Tel Aviv das Projekt eines palästinensischen Künstlers
gezeigt, der ein Video einer fiktiven Herrenmodenschau mit bauchfreier
Mode zeigt.
Was hat dies alles mit der Art des Sprechens in der Kunst zu tun?
Die Sprachen der Kunst
Sprache ist ein System der Bedeutungsgebung und dient damit der
Kommunikation. Dies gilt auch für die Sprachen der Kunst. Damit
Kommunikation in der Kunst gelingen kann, muss sie – als Produkt oder
als Prozess – von einem Publikum angenommen werden. Die von mir
vorgebrachten vier Vermutungen über Entwicklungen in der
zeitgenössischen Kunst geben Hinweise darauf, welcher Stellenwert heute
im gesellschaftlichen Wandel der bisherigen Selbstverständlichkeiten
der Moderne den Sprachen der Kunst zukommt und in welcher Form heute
Künstler mit der Öffentlichkeit kommunizieren. Der oft geäußerte
Vorwurf, dass zeitgenössische Kunst vielfach eine Sackgasse der
Rationalität ansteuert und dass ihr "kaltes Sprechen" weder den
Bedürfnissen noch den Erwartungen des heutigen Publikums entspricht,
ist eine berechtigte Kritik. Gleichzeitig gibt es Gegenbewegungen zu
stärker poetischen, emotionalen und ambivalenten Werken, die alles zum
Thema machen können, aber die Kraft der Ästhetik nicht aus der
vermuteten gesellschaftspolitischen Relevanz ableiten.
"Kaltes Sprechen" deutet auf Rationalität und Objektivität (siehe
Max Weber: Wissenschaft soll leuchten, nicht wärmen). Auch die
"Moderne" insgesamt und der "Liberalismus" werden oft als "kalte"
Projekte (Ralf Dahrendorf) dargestellt, weil sie nicht auf die
Schaffung von Gemeinschaftsgefühl und auf Bindung durch Emotion setzen.
Rettungsversuche des Gemeinschaftsgefühls, wie die Sehnsucht nach einem
"Verfassungspatriotismus" bei Jürgen Habermas, unterstreichen dieses
Problem noch. "Heißes Sprechen" deutet auf Emotion und Subjektivität,
wie dies Francis Bacon als Domäne der Kunst beschrieben hat.
Sprache besitzt stets einen Kommunikations- und einen Emotionswert.
Diese Unterscheidung wurde erstmals explizit im späten 19. Jahrhundert
von dem Prager Weihbischof Wenzel Frind in einer Studie über die
Sprachenkonflikte der späten Habsburgermonarchie formuliert. Sie gilt
aber auch für das Sprechen in der Kunst. Ausgehend von der bei Claude
Levi-Strauss getroffenen Unterscheidung zwischen kalten und heißen
Gesellschaften, also Gesellschaften, die Wandel möglichst vermeiden
wollen, und solchen, die von und für die Veränderung leben, gibt es
kaltes und heißes Sprechen in der Kunst.
Die Begriffe "Ratio" und "Emotion" beschreiben diese Unterscheidung
vorläufig. Aber lässt sich aus der Kunstgeschichte der Schluss ziehen:
Je formalisierter öffentliche Lebensordnungen wurden, desto mehr finden
sich Künstler als Vermittler von Emotion in der Form unvermeidlicher
"Passio"? Und je revolutionärer oder zumindest reformorientierter
öffentliche Lebensordnungen wurden, desto mehr verzichtete Kunst auf
große Emotionen, auch wenn sie revolutionäre Gesten produzierte?
Im Avantgardekonzept der Moderne wurde das "heiße Sprechen"
politisch engagierter Künstler zum sozialen Auftrag der Kunst. Aber
lesen wir Romane, weil sie uns politisch bilden, und hören wir Musik,
weil sie uns eine gesellschaftliche Utopie vermittelt? Der aus dem
späten 20. Jahrhundert bestens bekannte Begriff des politisch
"engagierten" Künstlers deutet bereits in seiner Doppelbedeutung darauf
hin, dass "Engagement" nicht immer mit heißem Sprechen oder Denken zu
tun haben muss. Engagiert bedeutet wohl in unserem Kontext, dass
Künstler eine bestimmte moralische Haltung einnehmen und ethische
Fragen mit den Mittel der Ästhetik behandeln wollen.
Moderne Unabhängigkeit
Im Verhältnis zwischen Politik und dem Sprechen der Kunst hatten die
"Modernen" ihre Unabhängigkeit ausgerufen: unabhängig von Religion und
Metaphysik, vom Auftraggeber, unabhängig von Aufträgen, zuletzt auch
unabhängig von Objekten oder vom Publikum. Wie sieht dies heute aus?
Ich zitiere den Schriftsteller Rüdiger Safranski etwas ausführlicher
zum Thema Eros:
"Der Eros war einmal, von Platon bis Herbert Marcuse, verstanden
worden als das energetische Zentrum aller geistigen und schöpferischen
Bemühungen, die eine höhere Kultur hervorbringen. Der so verstandene
Eros aber ist entzaubert. Der verschlungene, geheimnisvolle Knoten der
Erotik ist gelöst, die Komponenten sind entmischt: Sexualität wird
sportlich betrieben, Fortpflanzung medizinisch betreut und manipuliert,
die Sprache der Leidenschaft ist der
Lebensabschnittspartnerschaftsdiskurs. Man empfindet einen Mangel.
Deshalb die heftigen Reanimationsversuche in den Medien. Große Gefühle
sind gefragt und werden angeboten für den schnellen Verbrauch.
Andere suchen den lagerfähigen Eros in den Archiven der Kultur.
Wahrscheinlich aber war es immer schon so: der Eros ist ein
Versprechen, das nicht dazu da ist, erfüllt zu werden. Der Eros lebt im
Aufschub (schon Dionysos war er ein ‚kommender Gott‘) und im
Verschwinden (schon Plutarch überliefert den Klageruf: ‚Der große Pan
ist tot . . . !‘) Deshalb gilt wohl: die Zukunft des Eros liegt im
Aufschub und im Entzug. Der Eros ist dann gegenwärtig, wenn er eben
verschwunden oder noch nicht angekommen ist. Er lebt im Imaginären.
Zuviel Wirklichkeit schadet ihm und lässt ihn erkalten."
Die Reanimation der Leidenschaften, nicht als konsumierbares
Kulturgut, sondern als Ausdruck einer Avantgarde, die das Imaginäre
schätzt, ist heute im Kunstbetrieb wenig erkennbar:
Kunstskandale sind in der Regel berechenbar und haben ihre 15
Minuten Berühmtheit. Wir wundern uns höchstens, wenn sie nach
Jahrzehnten wieder in Retrospektiven (wie etwa die Wiener
Otto-Mühl-Ausstellung 2004) reanimiert werden können. Ein nackter
irakischer Kriegsgefangener, auf allen Vieren an der Kette einer
amerikanischen Soldatin, erregt allemal mehr weltweite Leidenschaft als
das aktionistische Projekt von Valie Export in den sechziger Jahren mit
einem nackten Mann an ihrer Hundeleine. Vermutlich waren schon die
Kunstskandale der Wiener Welt um 1900 Teil eines bürgerlichen
kulturellen Konsumverhaltens.
Sind damit Gesellschaft und Politik für Emotionen, und ist die Kunst
für die Ratio zuständig geworden? Der Kunstphilosoph George Steiner
deutet dies in seiner unbeantworteten Frage an, wieso das Volk von
Schiller und Goethe den Irrweg des Nationalsozialismus gehen konnte. So
entsteht anscheinend eine Umkehr des vertrauten Schemas, dass der
Alltag durchrationalisiert wird und die Kunst zusätzliche Dimensionen
erschließt. Heute scheint Kunst Rationalität in einer emotionalisierten
Welt vermitteln zu wollen. Aber kann ihr das gelingen?
Was passiert derzeit in der internationalen Kunstszene? Ist sie
tatsächlich entweder selbstreferentiell und damit hermetisch – oder ist
sie spektakelorientiert und damit populistisch geworden? Es gibt diese
Entwicklung und sie lässt sich an der Kritik an Künstlern, die diese
Grenze überschreiten wollen, gut ablesen. Penderecki wird dabei zum
Neuromantiker abgestempelt, Nitsch zum Mythenproduzenten erklärt (wie
übrigens auch Peter Turrini) und Hrdlicka unter Totalitarismusverdacht
gestellt.
Heißes Sprechen ist der Kritik eindeutig verdächtig geworden. Die
Darstellung von Leidenschaft ist an die Unterhaltungsindustrie, die
Fernsehbilder und an die Werbung abgegeben worden und so soll es
offensichtlich bleiben. Theater- und Opernregisseure haben ihre liebe
Not, um Amor und Passio in den Stücken des 18. und 19. Jahrhunderts als
vormoderne Verfehlungen darzustellen und im Regietheater mehr oder
weniger subtil umzuschreiben. Bei Marlowe, Shakespeare, Tschechow, aber
auch bei der gesamten Opernliteratur, ist dies schwierig.
Wo sich Kunst wieder stärker mit Geschichte und Identität befasst,
wird die Grenze zwischen Ratio und Emotion rasch durchlässig. In
Osteuropa und am Balkan ist dies heute selbstverständlich, wenn es auch
von der westlichen Kunstkritik meist mit dem Vorwurf des "Pathetischen"
und des "Provinziellen" bedacht wird. Ein Beispiel für neue Formen der
Verbindung sind die Arbeiten der slowenischen Künstlerin Marjetica
Potrc. Ihre Arbeit "This Than That. Maja sent this vase" zeigt eine
Vase, die wir als schön beschreiben können. Die Vase ist aus den Resten
einer Granate gemacht, die auf Sarajewo gefallen ist. Und sie trägt die
Inschrift: "Yes, now it touches the soul, but before it pierced the
body." ("Ja, jetzt rührt sie die Seele an, aber vorher durchdrang sie
den Körper.")
In derartigen Arbeiten liegen Ansätze, um kulturpessimistische
Vermutungen, dass "emotionale Resonanz" gar nicht mehr das Ziel
künstlerischer Produktion oder Rezeption ist, zu widerlegen. Gerade die
offensichtliche Wiederkehr von Geschichts- und Identitätspolitik gibt
Künstlern die Chance, mit differenzierten emotionalen Angeboten ein
Publikum zu erreichen, das in der Moderne von anderen Anbietern im
Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Sinngebung (von
geschichtsphilosophischen Spekulationen bis zur Kundenbindung an
Markenartikel) leichter angesprochen werden konnte.
Emotion und Kommunikation
Das Dilemma der Moderne bestand immer darin, dass sie ihr
Versprechen von mehr Gerechtigkeit nur auf Kosten einer
Entemotionalisierung anbieten konnte. Gerade die Kunst hat die
Instrumente und Methoden, um beim Konstruieren von neuen subjektiven
Räumen und Identitäten, auf die Bedeutung und Ambivalenz von Gefühlen
zu verweisen. Wenn die Intervention in der sozialen Umwelt zur gängigen
Praxis von Kunstprojekten wird, so deutet auch dies darauf hin, dass
das Feld der Kunst weiter wird und Emotionen stärker zum Gelingen der
Kommunikation mit dem Publikum eingesetzt werden. Selbst der Tabubruch,
der tendenziell sowohl in einem klassischen Verständnis der
alternativlosen Moderne als erst recht in der Beliebigkeit der
Postmoderne immer schwerer zu erzielen ist, wird durch das
Wiederentdecken von Identitätspolitik wieder zur Möglichkeit, mit
Mitteln der Kunst Leidenschaften auszulösen.
Am deutlichsten zeigen sich diese Entwicklungen beim Problem der
Wahrheit. Das von Vaclav Havel und anderen Dissidenten Mittel- und
Osteuropas politisch eingeforderte Konzept von "In der Wahrheit leben"
hat sich in jeder Hinsicht – auch als Motivation für kreative
Leistungen – als stärker erwiesen als eine Kunstästhetik mit
Wahrheitsanspruch. Im Westen waren und sind Diskussionen um den
Stellenwert und die Bedeutung von Kitsch bei Umberto Eco und die
Weiterentwicklung von Pop Art und ihren Stra tegien in den Arbeiten des
amerikanischen Künstlers Jeff Koons Reaktionen auf die Gefühlsarmut der
Moderne. Konrad Paul Liessmann schreibt zum Interesse postmoderner
Künstler am Kitsch zutreffend: "Es handelt sich letztlich um eine
sublime Rache an den Zumutungen der avantgardistischen Moderne" , man
schlage "damit den asketischen Idealen der auf Wahrheit und
Authentizität fixierten radikalen Moderne ebenso ein Schnippchen wie
den philiströsen Ansprüchen der politischen Korrektheit".
Das deutlichste Ergebnis postmoderner Tendenzen der Kunstszene
stellen die Dominanz neuer Subjektivität, die bereits beschriebenen
Kuratorenkonstruktionen, die Überschätzung von Design als Substitut für
Inhalt, aber auch die vielzitierte neue Lust am Erzählen dar. Dabei
wird allerdings auch das größte Unglück der Postmoderne klar, nämlich
dass sie den Wert der Pluralität, für die sie eintritt, letztlich nicht
erklären kann. In einer Medienwelt gerät nicht nur alles unter
Beobachtung, sondern die Beobachtung selbst wird zum eigentlichen Wert.
Auch für den Künstler werden die Opportunitätsfallen der
Erlebnisgesellschaft, in der Emotionen möglichst einfach konsumiert
werden wollen, immer perfekter.
Günther Anders schrieb, dass die Künste zum unverbindlichen
Kulturgut geworden sind und zur Harmlosigkeit neutralisiert wurden,
weil sie als "Ware" auftreten und nicht politisch-moralisch ernst
genommen werden wollen. Diese Tendenzen waren aber nicht nur eine Folge
immer stärkerer Marktstrukturen, sondern auch auf Seite der Künstler
bestand eine erstaunliche Angepasstheit an die Vorgaben "politischer
Korrektheit". Wenn Emotion in der Kunst zulässig war, dann sollte sie
tolerant, aufgeklärt, korrekt sein. Heute schaffen gerade
mythenorientierte Geschichts- und Identitätspolitiken wieder Chancen
einer widerständigen künstlerischen Qualität und motivieren Künstler
zum heißen Sprechen.
Auch Festivals sind zu symbolischen Territorien geworden, die je
verwechselbarer sie geworden sind, desto mehr auf der Suche nach
Künstlern sind, die ihnen mit ihren Arbeiten unverwechselbare Identität
verschaffen.
Anders als das populistische Massenspektakel, setzt Kunst
Leidenschaften frei, reduziert sie aber nicht auf eine ohne Anstrengung
konsumierbare Ware. Die reflexive Aneignung von Gefühlen, die im
Deutungsspielraum eines Kunstwerks möglich wird, hat Umberto Eco zu dem
optimistischen Schluss gebracht, dass der Reiz des Kunstwerks darin
besteht, dass es nicht restlos eindeutig ist. Künstler wie Jeff Koons
ironisieren eine allzu klare Grenzziehung, wenn es um Gefühle in der
Kunst geht: "Kunst ist Kommunikation – es ist die Fähigkeit, Menschen
zu manipulieren. Der Unterschied zum Showbusiness oder zur Politik
besteht nur darin, dass der Künstler freier ist. Mehr als jeder andere
hat er die Möglichkeit, alles in seiner eigenen Kontrolle zu behalten."
Auf dem Markt der Sinnsuche scheint zumindest die Erinnerung an das
heiße Sprechen in der Kunst wieder gefragt (wohl auch weil Emotionen
nicht durch die intellektualisierten Formen der modernen Kunst
ersetzbar sind). Aus den realsozialistischen Erfahrungen von Künstlern
aus dem ehemals "anderen" Europa gibt es den bleibenden Hinweis, dass
Geschichte und das Bestehen von Differenz nicht aufhebbar sind, weder
von Errungenschaften der Moderne noch von den Prozessen der
Globalisierung. Man könnte vermuten: Wer viel Geschichte hat, braucht
sie auch.
Erfahrungen des Ostens
Für Europa deutet all dies darauf hin, dass Kunst und Emotion zu
einem gefragten Thema, ja, geradezu zu einem spezifischen Merkmal
europäischer Kultur werden könnten. Die "heißen" Erfahrungen aus der
"anderen europäischen Wirklichkeit" in Ost- und Südosteuropa und aus
der wachsenden kulturellen Vielfalt innerhalb der Europäischen Union
werden attraktiver sein als die "kalten" Anmerkungen der Moderne über
die Gefahren allzu starker Emotionen. Dennoch werden Künstler im Wissen
der Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht ein gemeinsames
europäisches Bewusstsein "herbeischreiben", wie dies bei den Staaten
Europas in Nationalliteraturen geschehen ist und teilweise noch
geschieht.
Was kann all dies für Europa bedeuten? Soll es einen Auftrag an die
Kunst geben, Europa zu (er-)schaffen? Es mag den Auftrag geben.
Schließlich macht es Sinn, in Zeiten von Geschichts- und
Identitätspolitik vorzuschlagen, dass auch Künstler an der Konstruktion
Europas mitarbeiten. Aber die Stärke europäischer Künstler wird sicher
nicht im Konstruieren von Gemeinschaftsgefühlen bestehen, sondern in
der Leidenschaft, mit der die Erfahrungen und die Vielfalt Europas zu
einem Thema der Kunst gemacht werden.
Ich kehre damit zur Vase aus Granatensplittern von Sarajewo zurück:
"Yes, now it touches the soul, but before it pierced the body." Eine
Chance für Europa mag darin liegen, die Leidenschaften der Kunst aus
dem ehemaligen Osten Europas als eine Chance zu verstehen, heißes
Sprechen in der Kunst als einen Beitrag zur europäischen Wirklichkeit
zuzulassen und ernst zu nehmen. Derzeit setzt nach wie vor der Westen
die Standards und lässt Künstlern aus dem Osten nur die Wahl, als
Epigonen (wenn sie die westlichen Standards nachahmen) oder als
provinziell (wenn sie auf ihren Erfahren bestehen) zu gelten. Mir
scheint die Zukunft dem heißen Sprechen in der Kunst und damit den
Erfahrungen des Ostens zu gehören.
Vielleicht sollte ich Francis Fukujama und Samuel Huntington einen
Katalog der Kunstausstellung "Blut & Honig. Die Zukunft ist am
Balkan" im Essl-Museum in Klosterneuburg schicken und sie um einen
Kommentar zu der Tatsache bitten, dass das zentrale Exponat dieser
Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus Südosteuropa der Leichenwagen
des 1914 in Sarajewo ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner
Gattin Sophie Gräfin Chotek war. Westliche Kunsttheoretiker möchte ich
mit dieser Frage nur ungern belästigen.
Botschafter Emil Brix , geboren 1956, ist Leiter der
Kulturpolitischen Sektion im österreichischen Außenministerium und
Generalsekretär der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
Freitag, 02. September 2005