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Artikel aus dem EXTRA Lexikon

Heißes und kaltes Sprechen

Ein Plädoyer für mehr Leidenschaft und Emotionen in der Kunst und in Kunstdebatten
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- Das Kunstwerk der slowenischen Künstlerin Marjetica Potrc,

Das Kunstwerk der slowenischen Künstlerin Marjetica Potrc, "This Than That. Maja sent this vase" zeigt eine Vase, die aus den Resten einer Granate gemacht ist, die auf Sarajewo gefallen ist. Foto: Archiv

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- Heißes Sprechen deutet auf Emotion und Subjektivität, wie dies Francis Bacon als Domäne der Kunst beschrieben hat . . . Foto: dpa

Heißes Sprechen deutet auf Emotion und Subjektivität, wie dies Francis Bacon als Domäne der Kunst beschrieben hat . . . Foto: dpa

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- Künstler aus Ost- und Südosteuropa mit ihren

Künstler aus Ost- und Südosteuropa mit ihren "heißen" Erfahrungen aus einer anderen europäischen Wirklichkeit haben eine andere, emotionalere Kunstsprache entwickelt. "Außerhalb meiner Selbst" heißt dieses Exponat von Mariela Gemisheva, das in der Ausstellung "Blut & Honig. Zukunft ist am Balkan" in der Sammlung Essl im Jahr 2003 zu sehen war. Foto: APA/Gemisheva

Von Emil Brix

Im allgegenwärtigen Kultur- und Festspielland Österreich mit seiner wunderbaren touristischen Umwegrentabilität bin ich mir des Frevels der Frage, ob wir Kunst eigentlich brauchen, durchaus bewusst. Die westliche zeitgenössische Kunst und ihre Interpreten scheinen insgesamt mehr an Strukturen und Ordnungen interessiert zu sein als am Hervorrufen von Gefühlen und deren Offenhalten als unverzichtbarer Horizont des Menschlichen. Warum möchte die heutige Kunstszene eher den Verstand als das Gefühl ansprechen und wie steht es um aktuelle Gegenbewegungen?

Der englische Humanist Francis Bacon beginnt seinen Essay "Of Love" (1625) mit der Warnung, dass die Leidenschaften besser bei den Künsten als im Leben angesiedelt werden sollten, weil man nicht gleichzeitig lieben und weise sein kann: "The stage is more beholding to love than the life of man. For as to the stage, love is ever matter of comedies and now and then of tragedies; but in life it doth much mischief, sometimes like a Siren, sometimes like a Fury" . ("Die Bühne ist für die Liebe geeigneter als das Leben der Menschen. Denn auf der Bühne ist die Liebe immer ein Anlass zu Komödien, und gelegentlich auch zu Tragödien; im Leben jedoch richtet sie viel Schaden an, manchmal als Sirene, manchmal als Furie.") Diese Arbeitsteilung war bereits in Platons Ideen über den Staat formuliert worden und wurde seit der Renaissance zum Programm und seit der Aufklärung zum Erfolgsmodell westlicher Zivilisation.

Moderne Rationalität

Der Kunst und dem sozialen Leben waren damit getrennte Plätze zugewiesen. Beim Nachdenken über die Frage, was den Westen und was Europa ausmacht, kommt daher das Wort "Leidenschaft" in der Regel nicht vor. In den bürgerlichen und in den marxistischen Gebrauchsformen der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts ging es im Wesentlichen um die Rationalisierung und damit Bändigung von Leidenschaften. Dies sollte nach Max Weber alle Lebensbereiche, auch Kunst und Kultur, umfassen: ". . . was letzten Endes den Kapitalismus geschaffen hat, ist die rationale Dauerunternehmung, rationale Buchführung, rationale Technik, das rationale Recht, aber auch nicht sie allein; es musste ergänzend hinzutreten die rationale Gesinnung, die Rationalisierung der Lebensführung . . ." Als Beweis der Erfolge der Rationalisierung nannte Weber 1910 in einem Aufsatz "Über die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik" die Polyphonie und den Kontrapunkt.

Dabei ist "Leidenschaft" eine Voraussetzung für die Staatsform der Republik; politische Denker von Thomas Paine bis Jean Jacques Rousseau erklärten sie zur notwendigen Tugend in einer gerechten politischen Ordnung. Das "heiße Sprechen und Denken" von möglichst vielen Bürgern wurde seit dem 18. Jahrhundert zum Prinzip und Motor gesellschaftlicher Erneuerung. Aufforderungen zur "Zivilcourage" und zur "Partizipation" sind ein Ausdruck dafür, neben den Mut, den eigenen Verstand zu verwenden, auch den Mut zum eigenen Handeln zu setzen.

Für die Kunst bedeuteten die Entscheidungen der Renaissance, Aufklärung und Moderne, wie der postmoderne Soziologe Daniel Bell formulierte, dass in der westlichen Kultur eine immer spürbare Trennung von Gesellschaftsstruktur (Wirtschaft, Technologie, Politik) und Kultur (symbolischer Ausdruck von Sinngehalten) entstand, somit eine Trennung von Zivilisation und Kultur. Die Gesellschaftsstruktur wurde von funktionaler Rationalität und Effizienz bestimmt, die Kultur von der "Rechtfertigung der Steigerung und Überhöhung des Selbst" . Die künstlerische Moderne hat sich dem nicht entzogen, sondern verstand sich als eine "antibürgerliche Kultur", die die Herrschaft der Rationalität kritisch begleitete.

Aber sie ging noch einen Schritt weiter. Sie reagierte im 20. Jahrhundert auf die Brüchigkeit eines Konzepts bedingungsloser Rationalität durch eigene Rationalitätsangebote. Die Moderne, als Konzept rationaler politischer Ordnung, wird heute allerdings zunehmend relativiert, wie dies in den Begriffen der Post-, Nach- oder Zweiten Moderne zum Ausdruck kommt. Damit wird auch in der Kunst zunehmend fraglich, ob das moderne Prinzip, dass Kunst vor allem an der Konstruktion der Realität mitarbeitet, noch eine angemessene Reaktion auf die Veränderungen darstellt.

Was bedeuten diese historischen Anmerkungen für das Thema der Leidenschaften in der Kunst der Gegenwart? Als Historiker orientiere ich mich zunächst an den beiden "Großtheorien", die im Westen nach 1989, nach dem Ende des Kalten Krieges, entstanden sind.

Sind wir, wie Francis Fukujama vermutet hat, am "Ende der Geschichte" angelangt, oder hat Samuel Huntington Recht, der seit Jahren im "Kampf der Kulturen" die Ordnung der Zukunft sieht? Dazu gibt es viele politikwissenschaftliche Analysen, die mehr oder wenig überzeugend erklären, dass beide nicht Recht haben. Ich möchte anhand einiger Bemerkungen zur Kunst Hinweise geben, warum es zum Verständnis von Kunst und Kultur dennoch gut täte, beide Bücher zu lesen – oder nochmals zu lesen.

Die These von Fukujama bedeutet, dass das Paradigma der Moderne – Kunst sei historisch und daher zum Fortschritt fähig, und sie sei ein fester Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklungen und damit weniger der Emotion als der Ratio verpflichtet – nicht mehr ohne weiteres hilfreich ist. Die These von Huntington bedeutet für die Kunst so ziemlich das genaue Gegenteil. Kunst schafft die Mythen der Differenzierung oder macht sie zumindest wieder glaubwürdig. Sie ist daher prinzipiell mehr der Emotion als der Ratio verbunden und kann dies nur unter Verlust ihres Publikums leugnen.

Die Funktion der Kunst

Ich beginne mit einigen wenig gewagten Vermutungen:

1. Kunst wird derzeit als Ordnungs- und damit Differenzierungsfaktor in einer globalisierten Welt immer gefragter. Globalisierung bedeutet weniger Chancen zur Differenzierung zwischen Gemeinschaften, außer im Bereich der spezifischen kulturellen Traditionen, die bis zum "Kampf der Kulturen" der Zukunft stilisiert werden können. Der Abbau politischer, ökonomischer und physischer Grenzen scheint den Bedarf an neuen und alten "Grenzziehungen" zur Sicherung von Identität notwendig zu machen. Künstler sind heute in Ost- und Südosteuropa wieder Akteure und Betroffene von Identitätspolitik, die ihnen Leidenschaft abverlangt oder sie zumindest dazu motiviert (die Beispiele reichen vom mitteleuropäischen Diskurs in den Romanen von Peter Esterhazy über die Rekonstruktion von "Galizien" in den Essays von Juri Andrucho-wytsch bis zur Serbien-Euphorie bei Peter Handke).

2. Kunst wird aber gleichzeitig zum Bestandteil globaler Erlebnisvorstellungen, die tendenziell keinerlei Rücksicht auf das Lokale nehmen (z. B. Mozartprojekt 2006: ein Dirigent leitet mittels digitaler visueller Übertragung gleichzeitig an 200 Orten der Welt unterschiedliche Orchester).

3. Kunst baut und rekonstruiert mit jedem Projekt ihre eigenen Räume/Identitäten, die sich nicht unbedingt mit anderen Realitäten messen wollen (als Beispiel kann die Ausstellung "Blut und Honig" über zeitgenössische Kunst vom Balkan dienen). Polemisch gewendet, endet diese Entwicklung bei der Welt als "künstlerischer Wille und Installation". Dies gilt bereits seit der Konzeptkunst der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es muss kein Objekt mehr geben, es reicht die Idee, und verständlich wird sie erst durch den Kommentar, der zum Eigentlichen der Kunst wird. Rudolf Burger spricht von der "Kunstbegleitrhetorik": "Nur ihre Begleitrhetorik hält sie als Kunst über Wasser."

4. Kunst wird immer politischer, weil die Politik immer weniger unbestrittene Ordnungsmöglichkeiten anbieten kann – aber im Unterschied zu den Vorstellungen der Aufklärung oft ohne großen moralischen Anspruch. Jeder Kurator baut seine subjektive Ordnung, jeder Intendant baut sein Festival als eigene Welt, wie etwa das Motto der Europäischen Kulturhauptstadt 2003 – "Graz fliegt" – verdeutlichte. Der moralische Anspruch der Künstler der 68er-Generation und der im Widerstand entstandenen "politischen Kunst" von Künstlern hinter dem ehemaligen "Eisernen Vorhang" ist nicht mehr zu spüren.

Die neue Qualität politisch motivierter Kunst liegt darin, dass sie das moralische Urteil weitgehend dem Publikum überlässt. Ich gebe ein Beispiel aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt. An den Checkpoints in Israel müssen arabische Männer ihren Bauch freimachen, um zu beweisen, dass sie keine Waffen und keinen Sprengstoff tragen. Vor zehn Jahren hätte vermutlich ein Fotokünstler daraus ein Projekt mit moralischer Empörung gemacht. Kürzlich wurde in einer israelischen Galerie in Tel Aviv das Projekt eines palästinensischen Künstlers gezeigt, der ein Video einer fiktiven Herrenmodenschau mit bauchfreier Mode zeigt.

Was hat dies alles mit der Art des Sprechens in der Kunst zu tun?

Die Sprachen der Kunst

Sprache ist ein System der Bedeutungsgebung und dient damit der Kommunikation. Dies gilt auch für die Sprachen der Kunst. Damit Kommunikation in der Kunst gelingen kann, muss sie – als Produkt oder als Prozess – von einem Publikum angenommen werden. Die von mir vorgebrachten vier Vermutungen über Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst geben Hinweise darauf, welcher Stellenwert heute im gesellschaftlichen Wandel der bisherigen Selbstverständlichkeiten der Moderne den Sprachen der Kunst zukommt und in welcher Form heute Künstler mit der Öffentlichkeit kommunizieren. Der oft geäußerte Vorwurf, dass zeitgenössische Kunst vielfach eine Sackgasse der Rationalität ansteuert und dass ihr "kaltes Sprechen" weder den Bedürfnissen noch den Erwartungen des heutigen Publikums entspricht, ist eine berechtigte Kritik. Gleichzeitig gibt es Gegenbewegungen zu stärker poetischen, emotionalen und ambivalenten Werken, die alles zum Thema machen können, aber die Kraft der Ästhetik nicht aus der vermuteten gesellschaftspolitischen Relevanz ableiten.

"Kaltes Sprechen" deutet auf Rationalität und Objektivität (siehe Max Weber: Wissenschaft soll leuchten, nicht wärmen). Auch die "Moderne" insgesamt und der "Liberalismus" werden oft als "kalte" Projekte (Ralf Dahrendorf) dargestellt, weil sie nicht auf die Schaffung von Gemeinschaftsgefühl und auf Bindung durch Emotion setzen. Rettungsversuche des Gemeinschaftsgefühls, wie die Sehnsucht nach einem "Verfassungspatriotismus" bei Jürgen Habermas, unterstreichen dieses Problem noch. "Heißes Sprechen" deutet auf Emotion und Subjektivität, wie dies Francis Bacon als Domäne der Kunst beschrieben hat.

Sprache besitzt stets einen Kommunikations- und einen Emotionswert. Diese Unterscheidung wurde erstmals explizit im späten 19. Jahrhundert von dem Prager Weihbischof Wenzel Frind in einer Studie über die Sprachenkonflikte der späten Habsburgermonarchie formuliert. Sie gilt aber auch für das Sprechen in der Kunst. Ausgehend von der bei Claude Levi-Strauss getroffenen Unterscheidung zwischen kalten und heißen Gesellschaften, also Gesellschaften, die Wandel möglichst vermeiden wollen, und solchen, die von und für die Veränderung leben, gibt es kaltes und heißes Sprechen in der Kunst.

Die Begriffe "Ratio" und "Emotion" beschreiben diese Unterscheidung vorläufig. Aber lässt sich aus der Kunstgeschichte der Schluss ziehen: Je formalisierter öffentliche Lebensordnungen wurden, desto mehr finden sich Künstler als Vermittler von Emotion in der Form unvermeidlicher "Passio"? Und je revolutionärer oder zumindest reformorientierter öffentliche Lebensordnungen wurden, desto mehr verzichtete Kunst auf große Emotionen, auch wenn sie revolutionäre Gesten produzierte?

Im Avantgardekonzept der Moderne wurde das "heiße Sprechen" politisch engagierter Künstler zum sozialen Auftrag der Kunst. Aber lesen wir Romane, weil sie uns politisch bilden, und hören wir Musik, weil sie uns eine gesellschaftliche Utopie vermittelt? Der aus dem späten 20. Jahrhundert bestens bekannte Begriff des politisch "engagierten" Künstlers deutet bereits in seiner Doppelbedeutung darauf hin, dass "Engagement" nicht immer mit heißem Sprechen oder Denken zu tun haben muss. Engagiert bedeutet wohl in unserem Kontext, dass Künstler eine bestimmte moralische Haltung einnehmen und ethische Fragen mit den Mittel der Ästhetik behandeln wollen.

Moderne Unabhängigkeit

Im Verhältnis zwischen Politik und dem Sprechen der Kunst hatten die "Modernen" ihre Unabhängigkeit ausgerufen: unabhängig von Religion und Metaphysik, vom Auftraggeber, unabhängig von Aufträgen, zuletzt auch unabhängig von Objekten oder vom Publikum. Wie sieht dies heute aus? Ich zitiere den Schriftsteller Rüdiger Safranski etwas ausführlicher zum Thema Eros:

"Der Eros war einmal, von Platon bis Herbert Marcuse, verstanden worden als das energetische Zentrum aller geistigen und schöpferischen Bemühungen, die eine höhere Kultur hervorbringen. Der so verstandene Eros aber ist entzaubert. Der verschlungene, geheimnisvolle Knoten der Erotik ist gelöst, die Komponenten sind entmischt: Sexualität wird sportlich betrieben, Fortpflanzung medizinisch betreut und manipuliert, die Sprache der Leidenschaft ist der Lebensabschnittspartnerschaftsdiskurs. Man empfindet einen Mangel. Deshalb die heftigen Reanimationsversuche in den Medien. Große Gefühle sind gefragt und werden angeboten für den schnellen Verbrauch.

Andere suchen den lagerfähigen Eros in den Archiven der Kultur. Wahrscheinlich aber war es immer schon so: der Eros ist ein Versprechen, das nicht dazu da ist, erfüllt zu werden. Der Eros lebt im Aufschub (schon Dionysos war er ein ‚kommender Gott‘) und im Verschwinden (schon Plutarch überliefert den Klageruf: ‚Der große Pan ist tot . . . !‘) Deshalb gilt wohl: die Zukunft des Eros liegt im Aufschub und im Entzug. Der Eros ist dann gegenwärtig, wenn er eben verschwunden oder noch nicht angekommen ist. Er lebt im Imaginären. Zuviel Wirklichkeit schadet ihm und lässt ihn erkalten."

Die Reanimation der Leidenschaften, nicht als konsumierbares Kulturgut, sondern als Ausdruck einer Avantgarde, die das Imaginäre schätzt, ist heute im Kunstbetrieb wenig erkennbar:

Kunstskandale sind in der Regel berechenbar und haben ihre 15 Minuten Berühmtheit. Wir wundern uns höchstens, wenn sie nach Jahrzehnten wieder in Retrospektiven (wie etwa die Wiener Otto-Mühl-Ausstellung 2004) reanimiert werden können. Ein nackter irakischer Kriegsgefangener, auf allen Vieren an der Kette einer amerikanischen Soldatin, erregt allemal mehr weltweite Leidenschaft als das aktionistische Projekt von Valie Export in den sechziger Jahren mit einem nackten Mann an ihrer Hundeleine. Vermutlich waren schon die Kunstskandale der Wiener Welt um 1900 Teil eines bürgerlichen kulturellen Konsumverhaltens.

Sind damit Gesellschaft und Politik für Emotionen, und ist die Kunst für die Ratio zuständig geworden? Der Kunstphilosoph George Steiner deutet dies in seiner unbeantworteten Frage an, wieso das Volk von Schiller und Goethe den Irrweg des Nationalsozialismus gehen konnte. So entsteht anscheinend eine Umkehr des vertrauten Schemas, dass der Alltag durchrationalisiert wird und die Kunst zusätzliche Dimensionen erschließt. Heute scheint Kunst Rationalität in einer emotionalisierten Welt vermitteln zu wollen. Aber kann ihr das gelingen?

Was passiert derzeit in der internationalen Kunstszene? Ist sie tatsächlich entweder selbstreferentiell und damit hermetisch – oder ist sie spektakelorientiert und damit populistisch geworden? Es gibt diese Entwicklung und sie lässt sich an der Kritik an Künstlern, die diese Grenze überschreiten wollen, gut ablesen. Penderecki wird dabei zum Neuromantiker abgestempelt, Nitsch zum Mythenproduzenten erklärt (wie übrigens auch Peter Turrini) und Hrdlicka unter Totalitarismusverdacht gestellt.

Heißes Sprechen ist der Kritik eindeutig verdächtig geworden. Die Darstellung von Leidenschaft ist an die Unterhaltungsindustrie, die Fernsehbilder und an die Werbung abgegeben worden und so soll es offensichtlich bleiben. Theater- und Opernregisseure haben ihre liebe Not, um Amor und Passio in den Stücken des 18. und 19. Jahrhunderts als vormoderne Verfehlungen darzustellen und im Regietheater mehr oder weniger subtil umzuschreiben. Bei Marlowe, Shakespeare, Tschechow, aber auch bei der gesamten Opernliteratur, ist dies schwierig.

Wo sich Kunst wieder stärker mit Geschichte und Identität befasst, wird die Grenze zwischen Ratio und Emotion rasch durchlässig. In Osteuropa und am Balkan ist dies heute selbstverständlich, wenn es auch von der westlichen Kunstkritik meist mit dem Vorwurf des "Pathetischen" und des "Provinziellen" bedacht wird. Ein Beispiel für neue Formen der Verbindung sind die Arbeiten der slowenischen Künstlerin Marjetica Potrc. Ihre Arbeit "This Than That. Maja sent this vase" zeigt eine Vase, die wir als schön beschreiben können. Die Vase ist aus den Resten einer Granate gemacht, die auf Sarajewo gefallen ist. Und sie trägt die Inschrift: "Yes, now it touches the soul, but before it pierced the body." ("Ja, jetzt rührt sie die Seele an, aber vorher durchdrang sie den Körper.")

In derartigen Arbeiten liegen Ansätze, um kulturpessimistische Vermutungen, dass "emotionale Resonanz" gar nicht mehr das Ziel künstlerischer Produktion oder Rezeption ist, zu widerlegen. Gerade die offensichtliche Wiederkehr von Geschichts- und Identitätspolitik gibt Künstlern die Chance, mit differenzierten emotionalen Angeboten ein Publikum zu erreichen, das in der Moderne von anderen Anbietern im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Sinngebung (von geschichtsphilosophischen Spekulationen bis zur Kundenbindung an Markenartikel) leichter angesprochen werden konnte.

Emotion und Kommunikation

Das Dilemma der Moderne bestand immer darin, dass sie ihr Versprechen von mehr Gerechtigkeit nur auf Kosten einer Entemotionalisierung anbieten konnte. Gerade die Kunst hat die Instrumente und Methoden, um beim Konstruieren von neuen subjektiven Räumen und Identitäten, auf die Bedeutung und Ambivalenz von Gefühlen zu verweisen. Wenn die Intervention in der sozialen Umwelt zur gängigen Praxis von Kunstprojekten wird, so deutet auch dies darauf hin, dass das Feld der Kunst weiter wird und Emotionen stärker zum Gelingen der Kommunikation mit dem Publikum eingesetzt werden. Selbst der Tabubruch, der tendenziell sowohl in einem klassischen Verständnis der alternativlosen Moderne als erst recht in der Beliebigkeit der Postmoderne immer schwerer zu erzielen ist, wird durch das Wiederentdecken von Identitätspolitik wieder zur Möglichkeit, mit Mitteln der Kunst Leidenschaften auszulösen.

Am deutlichsten zeigen sich diese Entwicklungen beim Problem der Wahrheit. Das von Vaclav Havel und anderen Dissidenten Mittel- und Osteuropas politisch eingeforderte Konzept von "In der Wahrheit leben" hat sich in jeder Hinsicht – auch als Motivation für kreative Leistungen – als stärker erwiesen als eine Kunstästhetik mit Wahrheitsanspruch. Im Westen waren und sind Diskussionen um den Stellenwert und die Bedeutung von Kitsch bei Umberto Eco und die Weiterentwicklung von Pop Art und ihren Stra tegien in den Arbeiten des amerikanischen Künstlers Jeff Koons Reaktionen auf die Gefühlsarmut der Moderne. Konrad Paul Liessmann schreibt zum Interesse postmoderner Künstler am Kitsch zutreffend: "Es handelt sich letztlich um eine sublime Rache an den Zumutungen der avantgardistischen Moderne" , man schlage "damit den asketischen Idealen der auf Wahrheit und Authentizität fixierten radikalen Moderne ebenso ein Schnippchen wie den philiströsen Ansprüchen der politischen Korrektheit".

Das deutlichste Ergebnis postmoderner Tendenzen der Kunstszene stellen die Dominanz neuer Subjektivität, die bereits beschriebenen Kuratorenkonstruktionen, die Überschätzung von Design als Substitut für Inhalt, aber auch die vielzitierte neue Lust am Erzählen dar. Dabei wird allerdings auch das größte Unglück der Postmoderne klar, nämlich dass sie den Wert der Pluralität, für die sie eintritt, letztlich nicht erklären kann. In einer Medienwelt gerät nicht nur alles unter Beobachtung, sondern die Beobachtung selbst wird zum eigentlichen Wert. Auch für den Künstler werden die Opportunitätsfallen der Erlebnisgesellschaft, in der Emotionen möglichst einfach konsumiert werden wollen, immer perfekter.

Günther Anders schrieb, dass die Künste zum unverbindlichen Kulturgut geworden sind und zur Harmlosigkeit neutralisiert wurden, weil sie als "Ware" auftreten und nicht politisch-moralisch ernst genommen werden wollen. Diese Tendenzen waren aber nicht nur eine Folge immer stärkerer Marktstrukturen, sondern auch auf Seite der Künstler bestand eine erstaunliche Angepasstheit an die Vorgaben "politischer Korrektheit". Wenn Emotion in der Kunst zulässig war, dann sollte sie tolerant, aufgeklärt, korrekt sein. Heute schaffen gerade mythenorientierte Geschichts- und Identitätspolitiken wieder Chancen einer widerständigen künstlerischen Qualität und motivieren Künstler zum heißen Sprechen.

Auch Festivals sind zu symbolischen Territorien geworden, die je verwechselbarer sie geworden sind, desto mehr auf der Suche nach Künstlern sind, die ihnen mit ihren Arbeiten unverwechselbare Identität verschaffen.

Anders als das populistische Massenspektakel, setzt Kunst Leidenschaften frei, reduziert sie aber nicht auf eine ohne Anstrengung konsumierbare Ware. Die reflexive Aneignung von Gefühlen, die im Deutungsspielraum eines Kunstwerks möglich wird, hat Umberto Eco zu dem optimistischen Schluss gebracht, dass der Reiz des Kunstwerks darin besteht, dass es nicht restlos eindeutig ist. Künstler wie Jeff Koons ironisieren eine allzu klare Grenzziehung, wenn es um Gefühle in der Kunst geht: "Kunst ist Kommunikation – es ist die Fähigkeit, Menschen zu manipulieren. Der Unterschied zum Showbusiness oder zur Politik besteht nur darin, dass der Künstler freier ist. Mehr als jeder andere hat er die Möglichkeit, alles in seiner eigenen Kontrolle zu behalten."

Auf dem Markt der Sinnsuche scheint zumindest die Erinnerung an das heiße Sprechen in der Kunst wieder gefragt (wohl auch weil Emotionen nicht durch die intellektualisierten Formen der modernen Kunst ersetzbar sind). Aus den realsozialistischen Erfahrungen von Künstlern aus dem ehemals "anderen" Europa gibt es den bleibenden Hinweis, dass Geschichte und das Bestehen von Differenz nicht aufhebbar sind, weder von Errungenschaften der Moderne noch von den Prozessen der Globalisierung. Man könnte vermuten: Wer viel Geschichte hat, braucht sie auch.

Erfahrungen des Ostens

Für Europa deutet all dies darauf hin, dass Kunst und Emotion zu einem gefragten Thema, ja, geradezu zu einem spezifischen Merkmal europäischer Kultur werden könnten. Die "heißen" Erfahrungen aus der "anderen europäischen Wirklichkeit" in Ost- und Südosteuropa und aus der wachsenden kulturellen Vielfalt innerhalb der Europäischen Union werden attraktiver sein als die "kalten" Anmerkungen der Moderne über die Gefahren allzu starker Emotionen. Dennoch werden Künstler im Wissen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht ein gemeinsames europäisches Bewusstsein "herbeischreiben", wie dies bei den Staaten Europas in Nationalliteraturen geschehen ist und teilweise noch geschieht.

Was kann all dies für Europa bedeuten? Soll es einen Auftrag an die Kunst geben, Europa zu (er-)schaffen? Es mag den Auftrag geben. Schließlich macht es Sinn, in Zeiten von Geschichts- und Identitätspolitik vorzuschlagen, dass auch Künstler an der Konstruktion Europas mitarbeiten. Aber die Stärke europäischer Künstler wird sicher nicht im Konstruieren von Gemeinschaftsgefühlen bestehen, sondern in der Leidenschaft, mit der die Erfahrungen und die Vielfalt Europas zu einem Thema der Kunst gemacht werden.

Ich kehre damit zur Vase aus Granatensplittern von Sarajewo zurück: "Yes, now it touches the soul, but before it pierced the body." Eine Chance für Europa mag darin liegen, die Leidenschaften der Kunst aus dem ehemaligen Osten Europas als eine Chance zu verstehen, heißes Sprechen in der Kunst als einen Beitrag zur europäischen Wirklichkeit zuzulassen und ernst zu nehmen. Derzeit setzt nach wie vor der Westen die Standards und lässt Künstlern aus dem Osten nur die Wahl, als Epigonen (wenn sie die westlichen Standards nachahmen) oder als provinziell (wenn sie auf ihren Erfahren bestehen) zu gelten. Mir scheint die Zukunft dem heißen Sprechen in der Kunst und damit den Erfahrungen des Ostens zu gehören.

Vielleicht sollte ich Francis Fukujama und Samuel Huntington einen Katalog der Kunstausstellung "Blut & Honig. Die Zukunft ist am Balkan" im Essl-Museum in Klosterneuburg schicken und sie um einen Kommentar zu der Tatsache bitten, dass das zentrale Exponat dieser Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus Südosteuropa der Leichenwagen des 1914 in Sarajewo ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie Gräfin Chotek war. Westliche Kunsttheoretiker möchte ich mit dieser Frage nur ungern belästigen.

Botschafter Emil Brix , geboren 1956, ist Leiter der Kulturpolitischen Sektion im österreichischen Außenministerium und Generalsekretär der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.

Freitag, 02. September 2005


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