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13. Januar 2003,  07:33, Neue Zürcher Zeitung

Und triffst du nur das Zauberwort

Das schwierige Verhältnis von Kunstproduktion, Dokumentation und Digitalisierung

Das World Wide Web wird heute oft als ein endloses Archiv gefeiert, das alles bewahren und für jedermann zugänglich halten kann - auch Bilder und Dokumente, die mit Kunst zu tun haben. Doch das ist ein Irrtum, wie sich in der Praxis zeigt. Deshalb braucht es neu strukturierte Datenbanken, die das Material bewahren und die gut miteinander vernetzt sind. Das allerdings ist ein Bereich, in dem heute zunächst Grundlagen erarbeitet werden wollen - auch in der Kunstwissenschaft.

Von Lioba Reddecker

Das Archiv hat Konjunktur - und das seit einigen Jahren mit steigender Tendenz. Um für diese Behauptung Indizien zu finden, genügt zunächst ein Blick in die Listen der Neuerscheinungen der vergangenen Monate. Das im Juni vorgestellte Kompendium «Interarchive» etwa, erstellt vom Kunstraum Lüneburg als Ergebnis eines umfangreichen Forschungsprozesses, liefert auf 640 eng bedruckten Seiten einen in beiderlei Sinn des Wortes «erschöpfenden» Überblick für den Bereich der Liaison von zeitgenössischer Kunstproduktion und dokumentarischen wie archivarischen Theorien und Praktiken. Dabei wird auch der Glaube an eine beinah grenzenlose Aufnahmefähigkeit der Funktion und des Begriffs «Archiv» deutlich. «Alles, was als Archiv bezeichnet wird, kann ein Archiv sein», bringt es die Künstlerin Maria Eichhorn auf den Punkt.

Ganz anders beginnt ein zweites, mit über 700 ebenso klein bedruckten Seiten nicht minder aufschlussreiches Buch mit dem Titel «Lost In The Archives». «There is a crisis in the archives», heisst es da ganz zu Beginn, und die Herausgeberin Rebecca Comay gesteht: «I quickly found myself at a loss when I sat down to introduce these proceedings - overcome not only by the intense profusion of the offerings, but by the excessive quality of the thing itself: every heap by now an archive, each archive already one too many, each an echo of all the others, already boxed up and labelled _archive_. What isn't an archive these days?» Es war wohl kein Zufall, dass sich auch die Manifesta Foundation anlässlich einer Diskussionsveranstaltung die Frage stellte: «Are we lost in the Archives?» - war ihr doch jüngst eine 3-Jahres-Förderung für Netzwerk- und Archivarbeit aus EU-Mitteln zugesprochen worden.

Doch ganz unklar muss das, was man sich unter einem Archiv vorstellt, nicht bleiben, liess doch eine Untersuchung anlässlich der Kasseler Ausstellung «Wiedervorlage d5» bezüglich der Assoziationen klare Präferenzen erkennen: Auf die Frage «Was verbinden Sie mit dem Begriff des Archivs in erster Linie?» lauten die meistgenannten Begriffe «kulturelles Gedächtnis», «Sammeln» und «Erinnern». Die Praxis im Dokumentieren zeigt ausserdem, dass «Archivieren» und «Sammeln» häufig synonym verwendet werden. Hatte die postmoderne Kulturkritik das Archiv noch mit «Bürokratie», «Totalitarismus» und «Tod» in Verbindung gebracht, spielen diese pejorativen Konnotationen im untersuchten Kunstfeld heute eine untergeordnete Rolle. Dieses Ergebnis aus einer das Projekt «vektor» (siehe Kasten) begleitenden Studie sei als Beispiel für die Heterogenität des Archivbegriffs genannt, der heute diskutiert wird.

Digitalisierung - das neue Zauberwort

Das Internet wird heute vielfach als ein denkbar grosses und endlos aufnahmefähiges Monumentalarchiv angesehen. Und in der (noch) analogen Welt wird das Schlagwort von der «Digitalisierung» als das neue Zauberwort in aller Munde geführt. Politiker stimmen begeistert Konzepten aller Art zu: sehen sie hier doch endlich eine Möglichkeit, die lang ersehnten Synergieeffekte zwischen den Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnologie und den unzähligen kleinen und mittleren «Content-Lieferanten» aus der Kultur herbeizuführen. Und die Europäische Kommission kann gar nicht eilig genug die Rahmenprogramme der Information Society Technologies (IST) verabschieden, über die 3,6 Billionen Euro in ehrgeizige Entwicklungsprogramme der Informationsverbreitung, der Kommunikation und der Medientechnologie investiert werden. Auch das neue Programm zur Kulturförderung, «Culture 2000», der EU trug dem vor drei Jahren Rechnung und sah endlich die Unterstützung von Kunstnetzwerken unter Berücksichtung neuer Technologien vor. Eine höchst willkommene Richtungsänderung, die es Projekten zur Erstellung und Vernetzung von Kultur- und Kunstdatenbanken erlaubt, die notwendige Grundlagenforschung zu unternehmen. Denn private Sponsoren oder staatliche Geldgeber können und wollen diese ersten Schritte nicht unterstützen. Dies hat seinen Grund meist weniger in fehlenden Mitteln denn in einem Kunstverständnis, das das produktive Subjekt im Künstler verklärt und im Gegenzug dazu Interessen von institutionellen Netzwerken zur Präsentation und Vermittlung von zeitgenössischer Kunst delegitimiert.

So sind EU-Förderungen zu einem Gutteil dafür verantwortlich, dass Kulturnetzwerke trotz allen monetären Widrigkeiten regelrecht aus dem Boden schiessen - denn alles ist machbar, bewahrbar und abrufbar. Datenmengen mögen unüberschaubar wirken, doch mit den immer leistungsfähigeren Chips kann das menschliche Wissen sehr wohl abgespeichert werden. «Ein gängiger PC müsste nur etwa ein Zehntel seines Speichers opfern, um das Gedächtnis einer Kleinfamilie abzuspeichern», führt Martin Warnke (Lüneburg) aus. Und Rudolf Gschwind, Leiter des Instituts für Photochemie der Universität Basel, rechnet vor, dass Digitalisierung letztlich die einzige Chance für Bilder darstellt, langfristig erhalten zu bleiben.

Ein schwieriges Verhältnis

Doch das Internet als endloses Archiv zu betrachten, wäre ein fataler Irrtum. Denn so viel das Netz an Informationen produziert, so viel zerstört es gleichermassen. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Dokuments im Netz beträgt etwa 2,5 Monate. Wir alle kennen die weisse Seite mit dem Text «Error 404, Datei nicht gefunden!». Es ist also wohl zielstrebiger, das World Wide Web zunächst als temporären Speicher und als Transportmittel von bitweisen Informationseinheiten zu betrachten. An dieser Stelle ist die Notwendigkeit von wissenschaftlichen Datenbanken zu verorten und setzt die Arbeit von Dokumentationsstellen wie etwa der «basis wien» an, die solche rasch «verfallende» Dokumente in einer relationalen Datenbank dynamisch verknüpft, bewahrt und abrufbar hält.

Als das Projekt «vektor» in den späten 1990er Jahren initiiert wurde, waren viele Kunstinstitutionen auf der Suche nach geeigneten Datenbankmodellen. Die Ausgangslage war verwirrend und wenig erfolgversprechend. Zu viele verschiedene Datenbankstrukturen, divergierende inhaltliche Prägungen usw. schienen ein Zusammengehen sehr schwierig zu machen. Hinzu kamen schwerwiegende Probleme im juristischen Feld sowohl mit dem Urheberrecht als auch hinsichtlich Personal- und Finanzressourcen.

Strukturell aber ist der Ansatzpunkt für «vektor» die Überzeugung, dass eine «authentische» Dokumentation zur Kunst im Moment der Produktion von Kunst entsteht. Das Projekt geht davon aus, dass «Kunst» heute ein arbeitsteiliger Prozess mit unzähligen Rollenverschiebungen ist und dass vor diesem Hintergrund Datenbankmodelle entwickelt werden müssen: eine gigantische Aufgabe für die unzähligen, oft am Existenzminimum arbeitenden Kunstinstitutionen, die sich nun freiwillig oder auch zwangsläufig der Herausforderung durch das Internet stellen.

Betrachten wir beispielsweise das Documenta- Archiv in Kassel. 1961 vom Documenta-Vater Arnold Bode gegründet, verwahrt es seit vier Jahrzehnten alle erreichbaren Materialien, die im Prozess der Ausstellungsrealisation anfallen. Mit seinen 250 000 Zeitungsausschnitten, 150 000 Einladungskarten, fast 1400 Aktenmappen in 533 Archivkartons und vielen weiteren Materialien stellt dieses Archiv eine der grössten Spezialforschungsstätten zur zeitgenössischen Kunst dar. Wer würde sich bei diesem Angebot nicht freuen, von zu Hause aus bequem via Mausklick durch die Aktenschränke des Hauses zu wandern und die Anfragebriefe der Künstler an die Kuratoren oder auch die erbosten Kommentare sich übergangen fühlender Galeristen zu durchforsten? Doch aus vielerlei Gründen sind wir von diesem betörenden Angebot noch weit entfernt.

Paradigmenwechsel

Doch die Begehrlichkeiten wurden geweckt. Und so ist inzwischen auch die Kunstwissenschaft aufgerufen, ihre Methodologie zu klären und sich diesem neuen «Schlüsselthema der Geisteswissenschaft zu stellen» - so Hubertus Kohle an einer Fachtagung zum Thema «Digitale und digitalisierte Kunstgeschichte» in München. Kunstgeschichte beschäftigt sich mit Bildern und stösst immer stärker auf eine künstlerische Produktion, die mit Unterstützung der elektronischen Medien entstanden ist. Ausserdem scheinen die Potenziale der Bildcodierung in den digitalen Medien noch erheblich grösser zu sein als die der Textcodierung.

Denn anders als das Bibliothekswesen, das auf eine jahrhundertealte Tradition der Codierung und Indexierung ihrer Materialien aufbaut, diskutiert die Kunstwissenschaft nun grundsätzliche Fragestellungen. So zum Beispiel die These, dass man unter dem Eindruck der neuen Medien von Kontextfragen abrücken und die Struktur des Kunstwerkes selber wieder verstärkt ins Blickfeld rücken wird. Andere sehen in der forcierten Einführung von Datenbanken einen Zwang zu Strukturierungsleistungen, der vor allem in den Museen deutlich veränderte Denk- und Arbeitsweisen hervorrufen dürfte. Weitere, auch technologisch fokussierende Themen betreffen zum Beispiel das digitale Bild oder Bilder in Datenbanken - sowohl hinsichtlich der Techniken der Reproduktion und der Inventarisierung von Kunst als auch in der theoretischen Reflexion der Adressierbarkeit und der technischen Analysierbarkeit digitaler Bilddaten. Gerade vor dem Hintergrund der als «iconic turn» diskutierten Wende «von der Sprache zum Bild» wird erörtert, inwieweit automatische Bildabfragmodule der bisher gänzlich sprachbasierten Bildanalyse und Recherche neue Impulse geben können.

Die grosse Frage, die hinter all diesen Debatten steht, lautet: Wie wird Information zu Wissen? Im Projekt «vektor» fragen sich die involvierten Fachleute, wie in Datenbanken mit gespeicherter Information die spezifischen Eigenheiten kultureller Produkte bewahrt werden können und gleichzeitig ein Suchergebnis so gestaltet sein kann, dass der Anspruch von offenen, demokratisch organisierten Zugängen zur aktuellen Kunst kein hohler legitimistischer Begriff bleiben muss. Die «user-friendly information society» ist das dazugehörige Schlagwort der EU im erwähnten IST-Rahmenprogramm.

Eine «vektor»-Tagung im Museion - Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen machte kürzlich deutlich, dass noch ein langer Weg zu bewältigen ist. Es besteht jedoch kein grundsätzlicher Zweifel mehr darüber, dass Standards zur Erschliessung kultureller und künstlerischer Inhalte vereinbart und diese Aufgaben von ausgebildeten Fachleuten langfristig betreut werden müssen. Ausserdem werden gut akkordierte Programme und Finanzierungspläne benötigt. - Obwohl vom Diözesanmuseum über Naturhistorische Sammlungen bis hin zum Documenta- Archiv oder zu der textbezogenen Kunstsammlung des Museion selber sehr unterschiedliche Institutionen in Bozen versammelt waren, wurde deutlich, dass die Grundgedanken bei der Erschliessung von Objekten und Archivalien produktiv vergleichbar sind.

In der «Research-Plattform» des «vektor»-Projektes wird nun seit zwei Jahren anhand der Online-Eingabe von Testdatensätzen die Verwendung internationaler Standards für den Bereich der zeitgenössischen Kunst erprobt. Dieser eher mühevollen Aufgabe unterzieht man sich, um sich auf die Verwendung von Begriffen zu verständigen, die einer zentralen Suchmaschine in vielen europäischen Sprachen die Abfrage über heterogene und verteilte Datenbanken ermöglicht. Diese Suchmaschine soll keine wertvolle Zeit damit verlieren, die Definitionen von Datenfeldern, die Schreibweisen von Namen, die Bezeichnungen von Körperschaften oder Thesauri in der Query zu vergleichen. Denn dies hätte zur Folge, dass die Geduld des Users bei einer Datenbankanfrage überstrapaziert würde und er mit dem nächsten Mausklick das Weite suchen dürfte. Vielmehr wird ein System getestet, in dem man sich auf die notwendigen Erfassungskategorien verständigt, mit denen die bereits erwähnte künstlerische Vielfalt nur unmassgeblich beschnitten und die Informationssuchenden im Netz mit hochqualitativen Ergebnissen belohnt werden.

european-art.net

Fehlende Akzeptanz für diese Arbeit, die speziell im Kunstbereich oft genug als illegitime «Schubladisierung», als eine die einzigartige Aussage eines Kunstwerks ignorierende und somit falsche Kategorisierung empfunden wird, prägt heute noch massgeblich die öffentliche Wahrnehmung derartiger Unternehmungen. Seit der Eröffnung vor einigen Tagen eines ersten gemeinsamen Online-Portals mit zunächst einigen der im Projekt involvierten Datenbanken ist unter www.european-art.net das produktive Resultat für den einzelnen Kunstinteressierten erkennbar (siehe Kasten).

Ursprünglich gegründet in dem Wunsch nach Erstellung einer European List of Artist Names, die sichere Auskunft über Schreibweisen nicht zuletzt für osteuropäische Namen geben kann, konnte über diese Fragestellung ein Retrieval-System zur Abfrage über verteilte Datenbanken entwickelt werden. Die amerikanische United List of Artist Names (ULAN), u. a. betreut vom auch für den AAT (Art and Architecture Thesaurus) und den TGN (Thesaurus of Geographic Names) zuständigen Getty Research Institute, führte zur Gründung dieses europäischen Portals. In diesem ersten Schritt wurden zwar nicht alle formulierten Ziele erreicht, wie etwa die Integration von Diakritika in osteuropäischen Schreibweisen. Doch erleichtert gerade das für den Anfang die userfreundliche Aufbereitung dieser Plattform für zeitgenössische Kunstdatenbanken. Georges Perec würde diese Vorgehensweise vermutlich als endgültig vorläufig («définitivement provisoire») beschreiben. Unbezweifelbar müssen und mussten Archivare immer schon - gleichgültig ob sie mit analogen oder digitalen Ressourcen gearbeitet haben - einen produktiven Umgang mit dieser potenziellen Unendlichkeit des Archivs finden. Diese neuen digitalen Netzwerke können dabei zu einer noch nicht da gewesenen Form weltweiten Informations- und Wissenstransfers beitragen, der auch einem häufig hermetisch agierenden Feld wie der zeitgenössischen Kunst nur zuträglich sein kann.

 
 
 

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