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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst | documenta XII 
15. Juni 2007
14:46 MESZ
Infos zur documenta 12
Vom 16. Juni bis 23. September findet in Kassel die weltweit bedeutendste Großausstellung zeitgenössischer Kunst statt. Rund 600.000 Besucher werden erwartet. Die Ausstellung ist täglich zwischen 10 und 20 Uhr geöffnet. Die Veranstalter empfehlen, sich zwei Tage Zeit für einen Besuch zu nehmen. Zweitageskarten kosten 27 Euro (ermäßigt 18 Euro) Vor allem für Gäste aus dem Ausland kümmert sich ein eigenes Besucherservice um die Organisation individueller Ausstellungsbesuche und des Aufenthalts in Kassel. Weitere Infos unter www.documenta12.de.  
Foto: REUTERS/Kai Pfaffenbach
Und viele hängen in den Seilen: "The Floor of Forests", eine Installation der US-Künstlerin Trisha Brown.

Foto: documenta
Eine präsente Leitschiene bei der documenta 12: Arbeiten des österreichischen Künstlers Gerwald Rockenschaub.

Kunstunterricht für brave Schüler
Viel Sorgfalt und "Großzügigkeit" in einem Kunstparcours, in dessen Verlauf man selbstverständlich über alles reden kann

Die ab Samstag öffentlich zugängliche documenta 12 in Kassel, kuratiert von Roger M. Buergel und Ruth Noack – sie setzt weniger auf unmittelbares Erleben als auf wohldurchdachte, manchmal etwas alberne didaktische Leitmotive.


"Ich habe Ferran Adrià eingeladen", sagt Roger M. Buergel, "weil er es geschafft hat, seine eigene Ästhetik hervorzubringen, die sich in etwas sehr Einflussreiches in der internationalen Szene verwandelt hat. Daran bin ich interessiert, und nicht, ob die Leute es nun für Kunst halten oder nicht. Es ist wichtig zu sagen, dass künstlerische Intelligenz sich nicht in einem bestimmten Medium manifestiert, dass man Kunst nicht nur mit Fotografie, Skulptur und Malerei etc. identifizieren muss, auch nicht mit dem Kochen im Allgemeinen; jedoch, unter gewissen Umständen, kann es auch Kunst sein."

Und unter gewissen Umständen kann die documenta auch eine Außenstelle haben, eine in der kleinen Bucht Monjoi, in Adriàs elBulli. 50 Gäste bewirtet der Koch dort täglich, die nächsten 100 Tage lang werden die ungefragt auch documenta12-Besucher sein. Vielleicht fahren ja ein paar von ihnen dann nach Kassel, um auch den Rest der Ausstellung zu konsumieren – eine relativ leichte Übung.

Frei von Willkür

Der umgekehrte Weg ist da schon schwieriger, ist man doch auf Buergels Gnade angewiesen, im über Unzeiten hin ausgebuchten Lokal in Spanien doch unterzukommen: "Willkürlich" will er in Kassel Besucher ansprechen, um sie samt Flug ins elBulli zu laden. Durch seine Ausstellung lustwandeln will er und ab und an den Daumen gen Himmel strecken: "Du", heißt es dann vom Imperator, "bis auserwählt!"

Verdammt schwer muss Roger M. Buergel diese Geste fallen, denn angesichts der Ausstellung, die er gemeinsam mit Ruth Noack kuratierte, ist eines sonnenklar: Willkür ist seine Sache nicht.

Ein Mann der absichtsvollen Recherche ist er, der die Welt entsprechend seiner Beziehungsmuster gesehen haben will. Der aktuelle Zustand seines Weltbilds heißt documenta 12, und wie im Leben hängt auch dort alles irgendwie zusammen.

Diesen Zustand endlich zu entschleiern muss vor allem eines vermieden werden: Form. Die selbst auferlegte "Großzügigkeit" verbietet jede Bündelung, äußert sich im Vermeiden von Höhepunkten. Statt dieser Arbeit, wird immer wieder deutlich, könnte es selbstverständlich auch eine andere sein. Einwände herzlich willkommen: Man kann über alles reden – einfach einen der 1000 hübschen chinesischen Stühle aus dem womöglich 17. Jahrhundert nehmen, einen Hain bespielen und die Regeln beachten: "Ich will!" Alle Ausprägungen der gemeinen Behauptung sind streng verboten. Es zählt einzig das Argument, welches mit dem größten Apparat belegt werden kann – einem mustergültigen Katalog.

"Zeitgenössisches"

Buergel argumentiert die Formlosigkeit damit, dass es in der Geschichte der documenta außer der Versöhnung der deutschen mit der Geschichte der Moderne kein Thema gibt. Immer mehr sei die documenta zu einem Abbild der je aktuellen Szene geworden.

Ihm aber gilt alles als aktuell, als zeitgenössisch. Als Bezugspunkt gilt, was uns gegenwärtig ist: im Alltag, in Museen, in den Medien, das kaiserliche Mogulalbum aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die Target-Paintings von Poul Gernes, entstanden zwischen 1966 und 1969, Anatoli Osmolovskys abstrahierte Panzerfahrzeuge in polierter Bronze. Und ehe noch Sanja Ivekovics Mohnfeld am Friedrichsplatz zur Blüte kommen konnte, wird man schon dahingehend aufgeklärt, dass der Mohn in der Antike als Blume des Todes mythisiert und in der Romantik verklärt wurde.

Man wird aufgefordert, die Heroinproblematik im Allgemeinen und Opiumanbau in Afghanistan im Besonderen, Paul Celans Mohn und Gedächtnis ganz speziell, und dass Mohn in angloamerikanischen Staaten als Symbol gefallener Soldatinnen gilt und … immer im Kopf zu haben.

Verlorene Unschuld

Und gleich ist so ein Mohnfeld nicht mehr schön, bzw. wie Catrin Seefranz im Katalogtext schreibt: "Die Mohnblume hat jede metaphorische Unschuld verloren." Und wer das jetzt nicht glaubt, soll selber googeln und sich noch ein paar weitere Fakten suchen, die ihn vor der Gefahr des unmittelbaren Erlebens schützen. Die documenta 12 ist, was eine handverlesene Suchmaschinerie von Mitdenkern ausgespuckt hat. Deren Dramaturgie, heißt es, würde sich nur jenen erschließen, die das nötige Rüstzeug an Bildung mitbrächten bzw. offen genug wären, den angebotenen pädagogischen Dienst in Anspruch zu nehmen.

Die Oberlehrer

Damit das Museum Fridericianum und die neue Galerie und der eigens errichtete Pavillon in der Karlsaue und das Schloss Wilhelmshöhe und die documenta-Halle auch zusammenhalten, hat man sich für eine hübsch bürgerliche Benutzeroberfläche entschieden: für Vorhänge, Teppichböden und ein gedämpft buntes Farbprogramm an den Wänden. Die documenta 12 gibt sich als ein mit Oberlehrern vollgepferchtes Konferenzzimmer in einem akademischen Gymnasium, das ausschließlich braven Schülern vorbehalten ist.

Die dürfen dann auch einmal ein geschwollenes Gemächt bewundern, sofern sie die kritische Distanz wahren und nicht auf die Geschichte des Feminismus unter besonderer Berücksichtigung von Lee Lozano vergessen, und in Folge den nordwestiranischen Gartenteppich von um 1800 beflecken.

Obwohl: Finster genug wär's ja. Neben Werken Gerwald Rockenschaubs aus allen Schaffensperioden zieht sich schummrige Beleuchtung als Verbindendes durch diverse Säle. Rockenschaub erweist sich als überaus praktisch in der Anwendung als Argument für das wilde Migrieren der Formen: Auf Geometrie und monochrome Flächen scheint man annähernd überall schon einmal gekommen zu sein. Die simple Tatsache, dass parallel in mehreren Biografien und Kulturkreisen gut organisierte visuelle Effekte einfachster Natur ausgebildet wurden – aus ihr eine Theorie der "Formschicksale" ableiten zu wollen, ist schlicht albern. Gut, dass manche Kunstwerke dem gegenüber immun sind. (Markus Mittringer aus Kassel / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.6.2007)


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