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Kunstberichte

Albertina zeigt nun einen lang gehüteten Schatz: Max Ernsts berühmten Collagenroman "Une semaine de bonté"

Ein Künstler wie ein Mikrochirurg

Aus Groschenromanen wird surrealistische Kunst: Nach 72 Jahren lüftet die Albertina das Geheimnis um Max Ernsts Bildroman „Une semaine de bonté“ (im Bild: Ausschnitt aus einem Blatt).  Foto: Albertina

Aus Groschenromanen wird surrealistische Kunst: Nach 72 Jahren lüftet die Albertina das Geheimnis um Max Ernsts Bildroman „Une semaine de bonté“ (im Bild: Ausschnitt aus einem Blatt). Foto: Albertina

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Etwa um 1920 entdeckte Max Ernst das Collageverfahren als wesentliche Kunsttechnik des Surrealismus. Nach dem Schock des Ersten Weltkriegs war das Schneideverfahren auch ein symbolischer Akt als Reaktion auf das Kriegsgemetzel.

Der Künstler wird dabei zu einer Art Mikrochirurg: Max Ernst etwa hat Holzstichillustrationen aus Dienstmädchenromanen des 19. Jahrhunderts mit anderen Grafiken neu kombiniert. Ein ungeheures Mischwerk entstand, von Publikum und Kritiker zunächst fälschlicherweise als Zeichnungen bezeichnet. Sogar Walter Benjamin pries Ernst als einen "neuen Albrecht Dürer".

Einige der 184 Blätter aus "Die weiße Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit" sind zwar durch den Erstabdruck 1934 in fünf Heften bekannt, die Originale des Bildromans ohne Worte wurden aber seit 72 Jahren nie zur Gänze gezeigt. Sie befinden sich im Besitz eines Sammlers, der sie nun von der Albertina in die Hamburger Kunsthalle und schließlich in das Max Ernst Museum in Brühl wandern lässt.

Die Umschlagfarbe der erstgedruckten Hefte, für die der Künstler die technische Anweisung zum Verschleiern der Schnittkanten gab, wird in der Albertina als Hintergrundfarbe der jeweiligen Tage übernommen.

Spielfeld der Anregungen

Auch der Titel mancher Werke kann als politischer Aufruf zu sozialen Taten oder als reine Banalität und bewusstes Wortgemenge verstanden werden. Die erste Bildfolge des Sonntags weist etwa auf die Machtergreifung Hitlers 1933 hin: mit einer Anspielung an Napoleon, Uniformen und Löwenköpfen als Zeichen diktatorischer Herrschermacht seit jeher kritisiert. "Prähistorische Zukunft" nennt Ralph Ubl sein Buch über Max Ernst, der selbst Fragmente der Pharaonenzeit seinem minimalen Eingriff unterzog. So blickt der männliche Sphinx von Gisa in einen Eisenbahnwaggon, die Memnonkolosse tragen Adler, Fisch und Perücke, Mörder haben Masken und Menschen verwandelnd sich in Tiere. Grundprinzipien der Schwerkraft sind in den Blättern aufgehoben, ebenso Größen- und Raumverhältnisse. Ein nicht endendes fantastisches Spielfeld von Anregungen, die auch Filmemacher wie Charlie Chaplin, Robert Wilson und David Lynch ergriffen haben, eröffnet sich dem Betrachter.

Werner Spies, der diese Ausstellung initiiert und auch das Katalogbuch konzipiert hat, vergleicht den Collagenroman, den Ernst 1933 während eines Italienurlaubs schnitt und klebte, mit den "Desastres" von Francisco de Goya. Die Inhalte der Groschenromane sind in der Tat Eifersucht und Mord, vom Künstler in die nächtliche Zwischenwelt von Tod und Schlaf gehoben.

Collagenroman:

Une semaine de bonté

Albertina Pfeilerhalle, bis 24. April

Dienstag, 19. Februar 2008

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