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India Habitat Centre New Delhi 7.5.2001 -
21.5.2001
Die Documenta aus Kassel zu dislozieren und in die
weite Welt zu zerstreuen, war offensichtlich keine schlechte Idee.
In New Delhi hat sie sich jedenfalls bewährt. In der indischen
Hauptstadt fand nämlich zwischen 7. und 21. Mai die zweite von
insgesamt fünf Plattformen der Documenta 11 statt. Ihr Thema:
Experiments with Truth – Transitional Justice and the Process of
Truth and Reconciliation. Unter diesem Titel wurden im India Habitat
Centre, einem großen Kongresskomplex im Zentrum von Delhi, neben
einer einwöchigen Konferenz auch eine Video- und Filmausstellung
organisiert. Die Teilnehmer – TheoretikerInnen, KünstlerInnen,
politische AktivistInnen, JuristInnen etc. – kamen aus der ganzen
Welt. Wer auf ganz spezifische und originelle Weise die Konferenz
mitgestaltet hat, war ein kritisches, selbstbewusstes und vor allem
ein politisch klar profiliertes Publikum. Und diesem Publikum, das
leidenschaftlich und konsequent fast jedes auf dem Podium
artikulierte Problem mit den TeilnehmerInnen und untereinander
diskutierte, ist in einem beträchtlichen Ausmaß der Erfolg der
Veranstaltung zu verdanken. Das unterscheidet die zweite auch stark
von der ersten Plattform, die im Frühjahr in Wien »Democracy
Unrealized« thematisierte. Dieser Unterschied ist nicht nur auf
den amphitheaterhaften Saal des modernistischen Habitat-Zentrums
zurückzuführen, der dem Publikum einen viel näheren Kontakt zum
Podium ermöglichte, als dies im Vestibül der Wiener Akademie der
bildenden Künste der Fall war, wo man nach »Wahrheiten« nicht erst
fragen musste, weil man sie ohnehin verkündet und ausgestellt bekam.
Es ist vielmehr die bittere soziale Realität draußen, welche in
Delhi die Theorie zum praktischen Leben erwachen ließ. Die
unbeschreibliche Armut der Massen, ihre aussichtslose
gesellschaftliche Lage und geradezu bodenlose Klassenunterschiede
lassen sich in Delhi von keinem menschenwürdigen Denken ignorieren.
Die Rede von der sogenannten Kehrseite des globalen Kapitalismus,
wie man in den westlichen Metropolen die wachsenden sozialen
Widersprüche in der sogenannten Dritten Welt üblicherweise
beschreibt, stellt sich in Delhi nicht bloß als leere Phrase,
sondern vielmehr als hegemoniale Lüge heraus. Es ist sein wahres
Gesicht und keine Kehrseite, was dort offensichtlich geworden ist.
Kein Wunder also, dass die Ansprüche, welche die praktische Welt an
die Theorie stellt, in Delhi die Form eines radikalen Insistierens
angenommen haben. Dieses Insistieren lässt sich von keinem Trost und
keinem Placebo beruhigen. Man denkt einfach anders, und die von der
Documenta gestellten Fragen werden anders verstanden und auch anders
als erwartet beantwortet. Die Idee für das Thema der zweiten
Plattform kam vom Professor Avishai Margalit von der Hebrew
University in Jerusalem. Auf einer Arbeitskonferenz in Den Haag –
und zwar gleich nach dem Besuch des dortigen internationalen
Tribunals für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien – schlug er
vor, den Slogan der südafrikanischen Truth and Reconciliation
Comissions zum thematischen Ausgangspunkt für die Delhi-Konferenz zu
nehmen. Der Slogan lautete »Truth: the road to reconciliation« und
wurde als Frage an die TeilnehmerInnen der Delhi-Konferenz gestellt:
Führt die Wahrheit zur Versöhnung? Natürlich waren damit auch andere
Fälle von schweren politischen und gesellschaftlichen Konflikten
gemeint, bei denen – wie etwa in Chile, Argentinien, Ruanda,
Nordirland oder in postkommunistischen Ländern wie Ostdeutschland
dem ehemaligen Jugoslawien – immer noch nach einer Form der
Aussöhnung gesucht wird. Es ging um die Gesellschaften, die sich in
der sogenannten Übergangssituation befinden. Die Tools, die das
Documenta-Proposal für die Plattform 2 angeboten hat, um das Thema
zu erörtern, beinhaltete das heute übliche Instrumentarium für die
Lösung politischer Konflikte, an erster Stelle die
Zivilgesellschaft, eine rein juristisch verstandene Gerechtigkeit
und alle Arten von kulturalisierten symbolischen Kämpfen gegen das
gesellschaftlich Böse. Ist aber eine Versöhnung überhaupt noch
wünschenswert in einer Welt, in der gerade die verschiedenen
Versöhnungsstrategien vor allem dazu dienen, die wachsenden
gesellschaftlichen Spannungen symbolisch unter Kontrolle zu bringen
und sie auf diese Weise von dem politischen Bewusstsein der
unterdrückten Massen fern zu halten? Die Plattform 2 in Delhi hat
keine endgültige Antwort auf diese Strategien gegeben, hat aber die
symbolische Versöhnung als Strategie zur Lösung der politischen und
gesellschaftlichen Konflikte in der heutigen Welt entscheidend
zurückgewiesen. Nein, wir lassen uns nicht von ihrem
zivilgesellschaftlichen Opferkult hinreißen, wir nehmen nicht an
ihrer Olympiade des Leidens teil, war die klare und eindeutige
Antwort eines großen Teils des Publikum und einiger TeilnehmerInnen,
etwa von Eyal Sivan, eines Filmemachers und Autors aus Paris, oder
von Rustom Bharucha, dem indischen Theaterregisseur und
Theatertheoretiker. Letzterer machte mit außergewöhnlicher
Eindeutigkeit klar, dass es ihm sowohl im thematischen Rahmen der
Konferenz als auch in seinen Theaterexperimenten nicht um
irgendwelche kulturellen, sondern ausschließlich um politische
Identitäten geht. Um die »Botschaft« der zweiten Plattform in einem
Punkt zusammenzufassen, könnte man sagen, dass die hegemonialen
Strategien, die sich hinter dem zum Mainstream gewordenen
Toleranzdiskurs und der allgegenwärtigen Humanitarismusideologie
verbergen, durchschaut und zurückgewiesen wurden. Okwui Enwezor,
der künstlerische Leiter der Documenta 11, wurde jedenfalls nicht
müde, dem Publikum klar zu machen, dass die Plattform 2 in Delhi –
wie auch die anderen Plattformen außerhalb Deutschlands – keine Art
Vorspiel zur eigentlichen Documenta-Ausstellung in Kassel sind,
sondern schon einen notwendiger Bestandteil der Documenta 11
darstellen. Seine ständig wiederholte Botschaft lautete: Der wahre
Inhalt der Documenta ist schon in Delhi präsent, und dieser Inhalt
ist ein Effekt eben dieser Dislozierung.
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