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30.11.2006 - Kultur&Medien / Ausstellung
Nitsch: Der Ur-Exzess findet nun im Salon statt
VON ALMUTH SPIEGLER
Blut gestern und heute. Hermann Nitsch eröffnete im Martin-Gropius-Bau seine bisher größte Retrospektive.

Ganz offensichtlich und ganz wie gewohnt in schwarzer Kunstpriester-Kluft und mit immer ein drucksvoller wallendem Graubart genoss er die höflichen Aufwartungen, die Berlins Kulturszene ihm dieser Tage machte: Hermann Nitsch eröffnete am Mittwoch, begleitet von Gattin Rita sowie einem Sammler- und Galeristentross aus aller Welt, die bisher größte, in Deutschland sogar erste Retrospektive auf sein seit nahezu 50 Jahren zelebriertes Gesamtkunstwerk.

Immer wieder väterlich streng die gebührend ehrfürchtige Stille einfordernd, führte er schon Dienstagabend bei einem exklusiven Preview die Freunde der veranstaltenden Nationalgalerie durch die weiten Fluchten der Beletage des Martin-Gropius-Baus. Und selbst Christoph Schlingensief schaute vorbei, erinnerte sich mit anerkennendem Grauen an die brünftige Geruchskulisse seines eintägigen Aktionsbesuchs in Nitschs Prinzendorfer Schloss und machte sich geheimnisvoll Notizen.

Durch 18 Räume ging die gemütliche Pilgerreise durch die Vergangenheit, vom allerersten, heute in einem Leipziger Museum untergebrachten "Blutorgel"-Schüttbild, das 1962 während der "Klausur" der Ur-Aktionisten Nitsch, Mühl und Frohner in einem zugemauerten Wiener Keller entstand, bis hin zur großformatigen Auferstehungsgrafik aus diesem Jahr, in der sich Nitsch für viele doch überraschend wieder am kleinteiligen Figürlichen versucht.

Über 200 Objekte wurden für die Ausstellung aus Museen und Privatsammlungen wieder eingesammelt, ein altarähnlicher Aufbau samt Malhemden, Ornaten und bestürzend schlichten Friedhofsblumensträußen reiht sich an den nächsten, ein kräftiges monumentales Schüttbild an das andere. Festlich durchschreitet man die Rekonstruktionen des "Asolo-Raums", der 1973 fast didaktisch die Elemente des "Orgien und Mysterien Theaters" erklärte, sowie der "38. Mal-Aktion" in Essls Schömer Haus (1996, siehe Abbildung). Nur vereinzelt kamen Fragen auf, die Nitsch freundlich beantwortete - etwa über die immer wieder auftauchenden Taschentücher-Stapel, die "sind, was sie sind".

In einem "Geruchslabor" verraten bürokratisch anmutende Listen, wie "Liebe" schmecken soll (Brot, Wein) und "Kreuzigung" zu riechen hat (Jasmin, Ziegenurin, Schweiß, Holunder, Äther, Essigwasser). An der in Fertigregalen verstauten Phiolensammlung darf dann auch schnuppern, wer sich traut. Oder im Musikraum mittels Kopfhörern dem Soundtrack lauschen. Einen halbwegs authentischen Eindruck von Nitschs "Orgien und Mysterien Theater" vermitteln Videozusammenschnitte historischer Aktionen - sowie, großflächig ins Stiegenhaus projiziert, der Film zur "122. Aktion" im Burgtheater vor einem Jahr.

War dieses hochtechnisierte Spektakel wohl der Höhepunkt institutioneller Nitsch-Weihe auf Theaterebene, ist diese auf Aktionsmalerei konzentrierte Berliner Schau der absolute Gipfel seiner Musealisierung. Sie ist in ihrer luftigen Hängung und meisterlichen Auswahl einfach perfekt. Und genau das macht sie wiederum enttäuschend.

Von Kuratorin Britta Schmitz thematisch und formal, nicht aber chronologisch zusammengestellt, fügt sich dieses unbeeindruckt von allen politischen und künstlerischen Veränderungen über ein halbes Jahrhundert hinweg nur äußerst sanft weiterentwickelte Werk zu einem derart kompakten und gebändigten Ganzen, dass einem fast nichts weiter übrig bleibt, als es als abgeschlossen zu betrachten. Der einst von Nitsch so gar nicht bürgerlich angelegte Ur-Exzess der Sinne ist nun endgültig professionalisiert und salonfähig. Wovon auch die jüngsten, jetzt bunten Schüttbilder in Grün, Blau, Gelb, Rot erzählen, die nichts mehr atmen von wildem Blut und mythischem Brodeln, sondern gestisch abstrakte Kompositionen darstellen, wie sie so viele andere bereits durchdekliniert haben.

Heute sind nicht mehr nur Nitschs vorzeigbare Produkte Relikte (seines Aktionstheaters). Auch er selbst, unverzichtbarer Teil, Hohepriester seines von Beginn an schon so beängstigend ausgereiften Werks, ist ein Relikt. Immerhin, der österreichischen Nachkriegskunstgeschichte.

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