Spiele mit Schatten, Zeit und Tod

30. September 2009 | 10:10 | | Hedwig Kainberger
Im SN-Interview schildert Christian Boltanski, wie sprechende Uhr, Todestanz und Todesengel daran erinnern daran, dass das Leben endlich ist.
Hedwig Kainberger
Beim nächsten Ton ist es 11 Uhr, 23 Minuten und 40 Sekunden. Beim nächsten Ton ist es 11 Uhr, 23 Minuten und 50 Sekunden. Beim nächsten Ton ist es 11 Uhr, 24 Minuten und null – – –“ Spricht da eine Frau? Vergeht die Zeit, weil sie angesagt wird?

Was der französische Künstler Christian Boltanski im Auftrag der Salzburg Foundation in die Konradinische Krypta installiert hat, ist scheinbar schnell erklärt: Zu hören ist eine Zeitansage, ähnlich jener, die man bis vor kurzem am Telefon abrufen konnte; allerdings ertönt in der Krypta keine Aufnahme menschlicher Laute, sondern eine Computerstimme. Zu sehen sind an einer Wand zwölf Kerzen vor zwölf Metallskulpturen, deren Schatten mit den Flammen flackern (Bild oben), sowie der Schatten eines Todesengels, der die Wand entlang huscht (Bilder in der Mitte).

Was macht er mit diesem Kunstwerk? “Ich stelle Fragen nach Gott und nach dem Tod“, sagt Christian Boltanski im SN-Interview. “Kunst zu machen, bedeutet für mich: Fragen stellen, aber nicht mit Worten, sondern mit Licht, Tönen und Bildern.“

In dieser Collage werde nichts konkretes erzählt. “Die Schönheit von Kunst besteht darin, dass viele Leute dasselbe Werk betrachten, und jeder sieht darin etwas anderes. Einige Leute werden vielleicht lachen, einige weinen. Jeder ist frei. Je abstrakter ein Kunstwerk ist, desto freier sind die Betrachter.“

Was ist Zeit? “Wenn wir geboren werden, wissen wir, dass wir sterben, und dazwischen ist die Zeit“, sagt Christian Boltanski. Zu dieser eigenen Zeit jedes Menschen gebe es die Zeit der Welt. “Wir sind ein Teil dieser Zeit.“

Jeder Mensch trägt Vergangenheit in sich, sei es über Gene oder frühere Begegnungen mit Menschen, die mittlerweile verstorben und zuvor ebenfalls Menschen begegnet sind, die längst tot sind. “Zwischen der Vergangenheit und dem Heute ist kein Schnitt“, stellt der Künstler fest. “Eigentlich sind wir eine Mischung von all den toten Menschen.“

Die Zeit spürt nur, wer um die Verletzlichkeit des Lebens weißt, also um seinen Tod. Doch das sei nicht traurig, sagt Boltanski. “Wer das Leben liebt, hat keine Angst vor dem Tod. Wer den Tod fürchtet, liebt das Leben nicht.“ Außerdem: “Nichts ist beendet. Sie und ich werden sterben, niemand wird sein wie Sie und ich. Aber es wird Leute geben, die über dasselbe reden wie Sie und ich.“

“Ich liebe meine Katze“, sagt Christian Boltanski. “Aber meine Katze kann sich nicht vorstellen, dass es Katzen vor ihr gab und Katzen nach ihr geben wird.“ Doch: “Mensch zu sein, heißt, zu wissen, dass es Menschen vor und nach uns gibt.“ Jedes Menschenleben sei Teil der Zeit der Welt.

Und was ist Gott? “Gott existiert, das ist sicher. Gott ist die Zeit.“ Menschen könnten viel tun, “aber sie können nicht gegen die Zeit kämpfen“, warnt der Künstler. Ein Christ versuche, gegen Gott zu kämpfen, “aber Gott ist immer der stärkere“.

Was mag er an diesem Ort? Es sei ein alter, religiöser Ort. “Man kann hier nicht vergessen, dass hier vor fünf- oder achthundert Jahren Leute gebetet haben.“ Oben, in der Kirche, sei der Eindruck von Religion und Amtskirche stark. Es sei, als ob die Kathedrale sagte: “Ich bin stark!“ Hingegen sei diese Krypta ein Sinnbild der Verletzlichkeit.

Zudem sei sie versteckt. Am liebsten wäre ihm, wenn es keine Hinweisschilder gäbe, sondern wenn die Menschen, die hierher kämen, diesen Ort selbst fänden. Für ihn sei es hier unten leichter als oben in der Kirche, zu sich selbst zu finden.

Was heißt: sich finden? Unser Tun sei ein Wechselspiel zwischen Raum und Kraft, erläutert Christian Boltanski. Wer Kraft behalte, verliere Raum. Wer Raum einnehme, verliere Kraft. Wenn er im Fernsehen auftrete und viele Menschen erreiche, gewinne er Raum, aber verliere Kraft. “Wenn man zu viel im Fernsehen ist, ist das furchtbar, denn da verliert man sich selbst.“ In dieser Krypta hingegen, vor allem allein, “kann ich versuchen, mich zu finden“, also Kraft gewinnen.

Wer anfängt, hier über Tod und Zeit nachzudenken, entdeckt in dieser Installation raffinierte Kontraste. Es ist heutige, neue Kunst. Doch die Skelette an der Wand flackern wie Figuren eines mittelalterlichen Totentanzes. Eine Maschine sagt die Zeit an und weckt so in Menschen das Gefühl für Zeit. Doch nicht die Maschine, nur ein Mensch hat Zeit. Wäre der Ort menschenleer und nur die Zeitmaschine da, wäre da keine Zeit.

Übrigens: Eine sprechende Uhr kann Menschen anstrengen, sogar verletzten. Ähnliches wie in der Salzburger Krypta habe er einmal in einem Museum installiert, berichtet Christian Boltanski. Bald habe sich herausgestellt, dass das Aufsichtspersonal jede Stunde habe wechseln müssen, “weil man verrückt wird, wenn man das zu lange hört“.

© SN/SW