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30.08.2003 - Ausstellung
Ausstellung: Polyfone Utopie
Mit "europaMemoria" begibt sich Filmregisseurin Ruth Beckermann in den Ausstellungsraum.
VON CHRISTOPH HUBER


Ein buntes, quadratisches Arrange ment präsentiert sich dem Auge, wenn man in den großen Hohlraum des Grazer Doms im Berg blickt: 25 säuberlich in Fünferreihen nebeneinander arrangierte Kabinen, in grelle, verschiedenfarbige Filz-Abdeckungen gekleidet, bilden da einen strahlenden Kontrapunkt zum mächtigen, eintönig grauen Gewölbe. Schreitet man dazwischen hindurch, wird man von mehrsprachigem Stimmengewirr umfangen: Aus jeder Kabine tönt eine andere europäische Geschichte, die Geschichte einer Wanderung.

Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann, deren filmisches Werk - etwa Jenseits des Krieges, die Dokumentation zur Wehrmachts-Ausstellung, oder der Reisefilm Die papierene Brücke - immer wieder ums Thema Erinnerung kreist, hat mit "euopaMemoria" jetzt eine Rauminstallation zum Thema vorgelegt: 25 Interviews mit in Europa lebenden Menschen, die ihre Heimat - nicht immer freiwillig - verlassen haben, hat sie ausgewählt, jedes davon auf eine Laufzeit zwischen zweieinhalb und siebeneinhalb Minuten verdichtet.

Auf den ersten Blick regiert - wie bei den Kabinen-Farben - bei der Zusammensetzung der Interview-Partner das Prinzip der bunten Mischung: Der vietnamesische Sohn einer Prinzessin, der nach der französischen Niederlage bei Dien Bien Phu 1955 emigrieren musste, steht da neben einem jungen Mädchen, das erst vor kurzem aus dem Iran nach Österreich gekommen ist, weil es in seiner Heimat keine Zukunftsperspektiven sah. Ein vertriebener Sudetendeutscher kommt neben einer polnischen Jüdin zu Wort. Ein Musiker wischt nationales Schranken-Denken gleich forsch beiseite: "Ich sage immer, ich bin ein Palästinenser aus Ottakring".

Tatsächlich entsteht eine Art Fleckerlteppich der Diaspora: Hinter den individuellen Erinnerungen, die durchaus schon einmal vorrangig von Schlittschuhen oder dem Klima-Schock bei der Auswanderung von Afrika nach England handeln können, zeichnet sich die kulturelle und politische Geschichte des vorigen Jahrhunderts ab, gefiltert durch die Wahrnehmung des Subjekts. Gemeinsam ist den Gesprächen jedenfalls der Blickwinkel der Minderheit, des "Anderen": Spannend etwa, wie unterschiedlich die verschiedenen Einschätzungen der neuen Heimatländer ausfallen.

Durch die Anlage der Ausstellung wird der Zugang übers Persönliche noch betont: Betritt man die Kabine, steht man einem Gesicht quasi auf Augenhöhe gegenüber, ist dazu angehalten, sich ganz auf den sprechenden Kopf zu konzentrieren - den individuellen Rhythmus des Vortrags, die verschiedenen Tics beim Monologisieren. Ähnlichkeiten und Unterschiede im Redeverhalten formen jenseits des Berichteten ein zweites Netz aus oft unerwarteten Querbezügen.

Eben deswegen sind die Interviews in den Kabinen nicht untertitelt (auf der DVD zum Katalog sehr wohl, letzterer liegt auch im Ausstellungsraum auf, wenn man den Gesprächsinhalt gleich nachlesen will). Zwar kündet "europaMemoria" im Titel von der Bedeutung des Gedächtnisses, aber vorrangig ist die Ausstellung eine Einladung zur Begegnung, zum Flanieren zwischen den vielfältigen Persönlichkeiten. (Dass man in den Kabinen stehen muss, erhöht die Wander-Bereitschaft seitens des Besuchers zusätzlich.)

Knapp unter zwei Stunden würden die Interviews dauern, wenn man sie am Stück sieht, aber man ist angehalten, sich ganz nach Belieben seinen eigenen Film zu montieren, indem man willkürlich zwischen den Kabine wechselt: In der Form, die sich überzeugend von Beckermanns Kino-Arbeiten unterscheidet, stellt "europaMemoria" fast eine Utopie dar - ein gleichwertiges Nebeneinander, das am schönsten in der einladenden Klang-Polyfonie der unterschiedlichen Stimmen fassbar wird, die einen beim Gang durch die Ausstellung umfängt.

"europaMemoria", bis 28.9. im Grazer "Dom im Berg". Von 25.-28.9 läuft dazu eine Werkschau mit Ruth Beckermanns Filmen im Grazer Rechbauer-Kino.



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