Ein buntes, quadratisches Arrange ment präsentiert sich dem Auge, wenn
man in den großen Hohlraum des Grazer Doms im Berg blickt: 25 säuberlich
in Fünferreihen nebeneinander arrangierte Kabinen, in grelle,
verschiedenfarbige Filz-Abdeckungen gekleidet, bilden da einen strahlenden
Kontrapunkt zum mächtigen, eintönig grauen Gewölbe. Schreitet man
dazwischen hindurch, wird man von mehrsprachigem Stimmengewirr umfangen:
Aus jeder Kabine tönt eine andere europäische Geschichte, die Geschichte
einer Wanderung.
Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann, deren
filmisches Werk - etwa Jenseits des Krieges, die Dokumentation zur
Wehrmachts-Ausstellung, oder der Reisefilm Die papierene Brücke - immer
wieder ums Thema Erinnerung kreist, hat mit "euopaMemoria" jetzt eine
Rauminstallation zum Thema vorgelegt: 25 Interviews mit in Europa lebenden
Menschen, die ihre Heimat - nicht immer freiwillig - verlassen haben, hat
sie ausgewählt, jedes davon auf eine Laufzeit zwischen zweieinhalb und
siebeneinhalb Minuten verdichtet.
Auf den ersten Blick regiert - wie bei den Kabinen-Farben
- bei der Zusammensetzung der Interview-Partner das Prinzip der bunten
Mischung: Der vietnamesische Sohn einer Prinzessin, der nach der
französischen Niederlage bei Dien Bien Phu 1955 emigrieren musste, steht
da neben einem jungen Mädchen, das erst vor kurzem aus dem Iran nach
Österreich gekommen ist, weil es in seiner Heimat keine
Zukunftsperspektiven sah. Ein vertriebener Sudetendeutscher kommt neben
einer polnischen Jüdin zu Wort. Ein Musiker wischt nationales
Schranken-Denken gleich forsch beiseite: "Ich sage immer, ich bin ein
Palästinenser aus Ottakring".
Tatsächlich entsteht eine Art Fleckerlteppich der
Diaspora: Hinter den individuellen Erinnerungen, die durchaus schon einmal
vorrangig von Schlittschuhen oder dem Klima-Schock bei der Auswanderung
von Afrika nach England handeln können, zeichnet sich die kulturelle und
politische Geschichte des vorigen Jahrhunderts ab, gefiltert durch die
Wahrnehmung des Subjekts. Gemeinsam ist den Gesprächen jedenfalls der
Blickwinkel der Minderheit, des "Anderen": Spannend etwa, wie
unterschiedlich die verschiedenen Einschätzungen der neuen Heimatländer
ausfallen.
Durch die Anlage der Ausstellung wird der Zugang übers
Persönliche noch betont: Betritt man die Kabine, steht man einem Gesicht
quasi auf Augenhöhe gegenüber, ist dazu angehalten, sich ganz auf den
sprechenden Kopf zu konzentrieren - den individuellen Rhythmus des
Vortrags, die verschiedenen Tics beim Monologisieren. Ähnlichkeiten und
Unterschiede im Redeverhalten formen jenseits des Berichteten ein zweites
Netz aus oft unerwarteten Querbezügen.
Eben deswegen sind die Interviews in den Kabinen nicht
untertitelt (auf der DVD zum Katalog sehr wohl, letzterer liegt auch im
Ausstellungsraum auf, wenn man den Gesprächsinhalt gleich nachlesen will).
Zwar kündet "europaMemoria" im Titel von der Bedeutung des Gedächtnisses,
aber vorrangig ist die Ausstellung eine Einladung zur Begegnung, zum
Flanieren zwischen den vielfältigen Persönlichkeiten. (Dass man in den
Kabinen stehen muss, erhöht die Wander-Bereitschaft seitens des Besuchers
zusätzlich.)
Knapp unter zwei Stunden würden die Interviews dauern,
wenn man sie am Stück sieht, aber man ist angehalten, sich ganz nach
Belieben seinen eigenen Film zu montieren, indem man willkürlich zwischen
den Kabine wechselt: In der Form, die sich überzeugend von Beckermanns
Kino-Arbeiten unterscheidet, stellt "europaMemoria" fast eine Utopie dar -
ein gleichwertiges Nebeneinander, das am schönsten in der einladenden
Klang-Polyfonie der unterschiedlichen Stimmen fassbar wird, die einen beim
Gang durch die Ausstellung umfängt.
"europaMemoria", bis 28.9. im Grazer "Dom im Berg". Von
25.-28.9 läuft dazu eine Werkschau mit Ruth Beckermanns Filmen im Grazer
Rechbauer-Kino.
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