Artikel aus profil Nr. 24/2002
Tabu und Perfidie

Stefan Grissemann über die Causa Walser und das Wiederaufflammen einer alten Frage: Wie legitim ist es, sich in der Kunst über die Grenzen der Moral hinwegzusetzen?
In Deutschland werden dieser Tage wieder Bücher verbrannt. Allerdings vorläufig nur am Theater: Der Kunst-Agitator und Polit-Theatraliker Christoph Schlingensief plant, in knapp zwei Wochen - im Rahmen des Festivals "Theater der Welt" in Nordrhein-Westfalen - Bücher von Martin Walser erst zu signieren und anschließend zu verbrennen. Es gehe jetzt darum, sagt er, "schnell zu intervenieren" - und darum, "Möllemann durchzuspielen".

Vielleicht sind die Schockbilder, die Schlingensief entwirft (von der Züricher "Naziline" bis zur "Ausländer-raus"-Aktion vor der Wiener Oper), die einzig angemessene Form, künstlerisch auf das historische Trauma zu reagieren, das Deutschland und Österreich weiterhin bewegt und beherrscht. Die sich seit Ende Mai hochschaukelnde Debatte um Walsers - noch nicht erschienenes, aber schon erschöpfend kommentiertes und analysiertes - jüngstes Buch, genannt "Tod eines Kritikers", ist nur ein Beispiel für die verlässlich einsetzenden Erregungszustände, sobald NS-Geschichte und Antisemitismus in der Kunst assoziativ berührt werden. Die Flucht nach vorn scheint der einzige Weg zu sein, nicht im Labyrinth ideologisch-moralischer Spitzfindigkeiten verloren zu gehen: Nur die frontale Auseinandersetzung mit der Angst, die reflexive Verletzung der Tabus bringen (wenigstens potenziell) Bewegung in erstarrte Diskussionen. Der Preis ist leider hoch: Die allgegenwärtige Gefahr, die Gefühle der Opfer zu verletzen, steht in prekärem Verhältnis zum möglichen Erkenntniswert künstlerischer Maßnahmen.

Eine Ausstellung im New Yorker Jewish Museum hat erst vor wenigen Wochen für Erregung gesorgt. Unter dem Titel "Mirroring Evil: Nazi Imagery/Recent Art" haben die Kuratoren definitiv anstößiges Material versammelt: einen KZ-Lego-Baukasten und kunstvoll gefertigte Mengele-Skulpturen, Giftgaskanister mit Chanel-Logo und Hollywoodschauspieler in SS-Uniform. Pop und Politik, schmerzhaft ineinander verzahnt: Das Grauen hat Methode, die Vulgarität ist Programm.

"Hitler's Children" heißt jene Collage, die die Österreicherin Elke Krystufek dazu geliefert hat: In dem Bild ist die Künstlerin selbst zu sehen, wie sie, blutend, nackt und blessiert, in Fotografien des nationalsozialistischen Terrors posiert. Der Einsatz des eigenen, gewissermaßen ungeschützten Körpers ist dabei so etwas wie die Garantie der Seriosität des Unternehmens: eine Geschichtslektion als persönlicher Opfergang.

Er habe, bemerkt übrigens Christoph Schlingensief, an der Mitte nicht das geringste Interesse. Man könne sich an einem Ort nicht aufhalten, an dem bloß tatenlos doziert und arrogant abgeurteilt werde. Jederzeit ziehe er daher der satten Mitte einen Platz an der Peripherie, an den äußeren Rändern des politischen Spektrums vor; lieber arbeite er mit ehemaligen Neonazis als mit Vertretern des bürgerlichen Kulturbetriebs. Wenn Schlingensief den Antisemitismus des FDP-Politikers Möllemann "durchzuspielen" gedenkt, so ist der entscheidende Begriff bereits genannt: das Spiel. Die Differenz zwischen Wirklichkeit und Theater stellt den Kontext her: Der berüchtigte Aufruf Schlingensiefs, Helmut Kohl zu töten, trägt in der geschützten Zone der Kunst eine völlig andere Bedeutung als im öffentlichen Raum.

Das führt zurück zu Martin Walser, der sich in "Tod eines Kritikers", seiner Abrechnung mit dem Literatur-Entertainer Marcel Reich-Ranicki, am "Repertoire antisemitischer Klischees" bediene, wie "FAZ"-Mitherausgeber Frank Schirrmacher das genannt hat. Das stimmt zwar, aber die Frage, die er nicht stellt, ist: zu welchem Zweck. "Tod eines Kritikers" ist, nach Walser, eine Satire auf den Kulturbetrieb, die, wie man feststellen muss, durchaus auch nationalsozialistische Rhetorik benutzt: nicht sehr häufig, dafür umso bewusster, fast zitathaft.

Schon in seinem ersten Satz kündigt der Autor über seinen Icherzähler Unerwartetes an und damit seinen sehr kalkulierten Umgang mit der Provokation. Jeder Irritation folgt ihre Abschwächung; sogar die viel zitierte Hitler-Variation ("Ab heute nacht null Uhr wird zurückgeschlagen"), die Walser seinem Mordverdächtigen in den Mund legt, wird im Roman von den Umstehenden mit "mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu" quittiert. Das ist die alte Strategie: Provokation und Zurücknahme. "Tod eines Kritikers" enthält auch eine Debatte, die derzeit nicht geführt wird, die verdeckt wird von der - grober geführten - aktuellen Auseinandersetzung: ein Diskurs über Verstellung und (künstlerische) Strategie, über die vielen Ebenen und Bedeutungsschichten literarischer Stellungnahmen.

Dennoch: Walser überschreitet in seinem neuen Roman eine Grenze, die man lieber nicht verletzt sähe. Nicht so sehr, weil er ironisch vom Mord an einem Großkritiker fantasiert, vom (nicht einmal fiktiv stattfindenden) vergeltenden Unrecht gegen einen (beruflich) Ungerechten. Seine Grenzverletzung besteht aus dem Spiel mit tabuisierten Zeichen. Das ist zunächst, wie gesagt, legitim. Walser ist nicht der erste anerkannte Künstler, der sich an der Provokation der Ambivalenz im Umgang mit der faschistischen Geschichte seiner Heimat versucht: Die (von der Theoretikerin Susan Sontag verteidigten) deutsch-mythischen Filme Hans-Jürgen Syberbergs etwa, "Hitler, ein Film aus Deutschland" (1977) oder sein Winifred-Wagner-Epos (1975), beziehen ihre Spannung aus der Weigerung, die - auch in den Syberberg'schen Inszenierungen spürbare - Faszination des deutschen Faschismus zu leugnen.

Rainer Werner Fassbinder hat mit "Der Müll, die Stadt und der Tod" in den siebziger Jahren ein (bis heute heftig umstrittenes) Stück verfasst, das seiner angeblich antisemitischen Subtexte wegen skandalisiert wurde. Peter Zadek hat die Frankfurter Uraufführung des Dramas, das er zwar für tatsächlich antisemitisch hielt, 1985 so verteidigt: Er glaube, das deutsche Theaterpublikum sei objektiv genug, um zu sehen, was ihm da vorgeführt werde - auch das Stereotyp des "reichen Juden", das Fassbinder in sein Stück integriert hatte. Siebzehn Jahre später inszeniert Zadek selbst ein offen antisemitisches Drama, allerdings ein deutlich älteres: Christopher Marlowes "Der Jude von Malta", neu bearbeitet unter anderem von Elfriede Jelinek. Ist Antisemitismus, wenn man ihn ausstellt, ihn kenntlich macht, als Irritation automatisch produktiv? Die Trivialkultur hat in dieser Frage so wenig eindeutige Antworten parat wie die hohe Kunst: Unterscheiden sich Rechtsrock und Skin-Bands von dem (vielleicht) "wissenderen" Brachial-Pop der Gruppen Rammstein und Laibach substanziell? Anders gefragt: Immunisiert die Unterstellung von Intelligenz oder künstlerischem Kalkül bereits gegen die "Gefährlichkeit" der in der Kunst der Zyniker (auch) vertretenen Extremismen?

In einem scheint man sich, auch was Walser betrifft, einig zu sein: Zensur kommt als Reaktion auf "gefährliche" Kunst nicht infrage. In zwei Wochen schon wird der Suhrkamp Verlag "Tod eines Kritikers" publizieren, sicher nicht nur des Bildungsauftrags wegen, aber vermutlich doch wenigstens auch aus diesem Grund.

Sicher, der Fall Walser liegt anders als etwa die Fälle Fassbinder und Syberberg: Seine Basis ist eine persönliche Attacke, ein elaborierter, sprachlich verkünstelter Untergriff gegen jemanden, dessen tragische Familiengeschichte auch weniger feinfühlige Schriftsteller von der Beimischung antisemitischer Untertöne abhalten müsste. Die Geschmacklosigkeit Walsers ist evident. Aber die Geschmacklosigkeit ist in der Kunst kein Ausschlussgrund. Sie kann den, der sich ihrer bedient, zwar menschlich, durchaus auch moralisch disqualifizieren, aber noch nicht künstlerisch. Gute Romane, Gemälde, Filme und Theaterstücke müssen nicht allen gefallen wollen, um sich ihrer Qualität zu versichern, im Gegenteil; wenn, wie man sagt, der Zweck die Mittel heiligt, dann ist die Güte des Ziels entscheidend, nicht die des Weges.

In gerade diesem Punkt aber ist Walser am schwächsten. Sein Ziel ist, bei aller sprachlichen Virtuosität, ein denkbar geringes: Walsers schriftstellerischer Rachefeldzug an einer Literaturszene, in der er selbst länger schon keine Hauptrolle mehr spielt, rechtfertigt die drastische, als verletzend empfindbare formale Gestaltung in "Tod eines Kritikers" nicht.

Und natürlich ist bei Walser auch dessen besondere Affinität zum Vergessen mitzudenken: die nationalkonservativen Brandreden des Schriftstellers gegen die fortgesetzte Konfrontation mit dem Holocaust, seine Plädoyers gegen die "Dauerpräsentation unserer Schande". Das Misstrauen gegen einen solchen Autor ist angebracht, zumal dann, wenn gerade dieser, ein Verweigerer der Erinnerung, für ein kleines kultur- und literaturpolitisches Lustspiel die deutsche Geschichte, scheinbar sinnträchtig, ins Spiel bringt. Walser selbst ist der unglaubwürdigste Zeuge in der laufenden Verhandlung seines eigenen Romans. Er hat sich, nicht erst neuerdings, mit einer verachtenswerten Komplizin eingelassen, mit der übelsten Schwester der Kunst: der Perfidie.

Autor: Stefan Grissemann


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