Die Kraft des Lebens
Ernst Ludwig Kirchner. Das Museum der Moderne Salzburg präsentiert eine große Retrospektive.
GUDRUN WEINZIERL SALZBURG (SN). Die Kraft und Fülle des Lebens einfangen, in einer Technik, die spontan, frisch und unbekümmert natürlich wirken sollte, war Anspruch der deutschen Künstlervereinigung „Brücke“, deren Gründungsmitglied und bedeutendster Künstler Ernst Ludwig Kirchner war. Die Fülle des Lebens, das waren Akte, Figurenstudien, Porträts und Selbstporträts, aber auch Landschaften, die damals aufkommende Nacktbadekultur, Tänzer und Artisten, intime Atelierszenen, Sommeraufenthalte.
Ernst Ludwig Kirchner (1880 bis 1938) war in seiner Absage an das Bürgertum und die traditionelle Malerei der Akademien das Beispiel eines Bohemiens. Sein Leben verlief dramatisch und exzessiv, sein Weg als Künstler führte aus der Gemeinschaft der „Brücke“ in die Einsamkeit der Gebirgswelt Graubündens, vom Expressionisten zum Maler der Schweizer Alpen, von frühem und großem Erfolg bis zur Beurteilung seiner Kunst als „entartet“.
Mit seinem Frühwerk wurde er wie die anderen Mitglieder der Vereinigung „Brücke“ zum Wegbereiter der Kunst des 20. Jahrhunderts. Das Salzburger Museum der Moderne zeigt ab heute, Samstag, Österreichs erste große Retrospektive. Die Schau vereint Werke aus der Dresdner Frühzeit, den wenigen Berliner Jahren und der langen Schaffensphase in der Schweiz.
„Die Ausstellung ist eine kritische Auswahl qualitätsvoller, zum Teil selten oder bisher nie öffentlich gezeigter Werke aus der Schaffenszeit zwischen 1906 und 1938“, sagt Kurator Lucius Grisebach. Seine Beschäftigung mit Ernst Ludwig Kirchner geht über die des Wissenschafters und Kurators weit hinaus, besteht in einer familiären Verbindung zu Kirchner seit vier Generationen: Grisebachs Großvater war bereits während der „Brücke-Zeit“ in Berlin Kirchners Freund.
Über dessen Vermittlung kam der durch den kurzen Kriegseinsatz, Medikamenten-, Alkohol- und Drogenmissbrauch schwer erkrankte Kirchner 1917 in das Sanatorium von Eberhard Grisebachs Schwiegereltern Lucius und Helene Spengler in Davos.
Kirchner galt als Mensch mit enormen inneren Spannungen, dessen Freundlichkeit in erschütternder Feindseligkeit enden konnte. Seine Briefe und schriftlichen Aufzeichnungen geben ein beredtes Beispiel für Zerrissenheit und Ängste. Den Aufzeichnungen hat sich in den 1960er-Jahren mit der Herausgabe des „Davoser Tagebuchs“ erstmals Lothar Grisebach angenommen, von Lucius Grisebach wurden sie erneut ediert, 2010 werden Kirchners „Malerbriefe“ folgen.
„Kirchner hatte ein enormes Sensorium für die Außenwelt, das ihn nicht nur stilistisch und thematisch in seiner Arbeit, sondern auch persönlich existenziell bestimmte“, sagt Lucius Grisebach. Schnell, in „Viertelstundenakten“, hat er die menschliche Figur aus der Bewegung heraus erfasst, über die Zeichnung wiederum Ölgemälde, Holzschnitte, Radierungen entwickelt. „Ihm ging es um die Wirkung ganzer Situationen, von Kirchner ist auch keine einzige Detailskizze erhalten. So ist Kirchner in der deutschen Rezeption bis heute jener Künstler, der die gültige Form des Großstadtbilds schuf. Dem Großstadtmaler mit seinen Straßenszenen und den Bildern der Berliner Kokotten steht in der Schweiz der Ruf des größten Alpenmalers gegenüber“, führt der Kurator weiter aus. Von der Kunstwissenschaft sei Kirchner früh, vom breiten Publikum aber lang wenig beachtet und geschätzt worden „Im Vergleich zu Franz Marc oder Emil Nolde kam Kirchner dem Geschmack des Publikums nicht entgegen, war nicht lieblich genug.“ (bis 14. Jänner)www.museumdermoderne.at