Unruhestifter aus Überzeugung, genialer Aktionist
und Regisseur: Zum Tod von Christoph Schlingensief
Der Wanderer an den Grenzlinien
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Die Krankheit als Kunstobjekt: Schlingensief bei "Mea Culpa" im Wiener
Burgtheater. Foto: apa
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Von Petra Rathmanner
Regisseur
Christoph Schlingensief weitete den Begriff des Theaters aus.
Seine Krebserkrankung als Inspiration und Quelle
für seine Kunst.
Wien. Ist das noch Kunst? Die Frage begleitete
die Arbeiten Christoph Schlingensiefs von Anfang an. Feuilletonisten
gerierten sich bereits dem jungen Künstler gegenüber als
Kunstschiedsrichter – und bezeichneten ihn, wenig schmeichelhaft, als
Politkaspar und Bilderbersker, Moralisten und Missionar; sogar die
Gerichtsbarkeit wurde mit der Lösung der Gretchenfrage Kunst oder
Nicht-Kunst betraut: 1997 wurde Schlingensief bei einer Kunstaktion
"Mein Filz, mein Fett, mein Hase" auf der documenta X in Kassel von der
Polizei festgenommen, er trug ein Schild mit der Aufschrift "Tötet
Helmut Kohl".
Schlingensiefs Schaffen bescherte dem gewohnheitsmäßigen
Mehrspartenartisten aber auch eine treu ergebene, stetig wachsende
Fangemeinde. Die Marke S. – das war Spaß und Revolte, Absicht und Chaos,
Trash und Crash. Langweilig war es nie.
"Von Politik lernen, heißt Inszenieren lernen", schrieb der deutsche
Theatermacher einmal in einem Kommentar über seine Arbeit. Wohl kein
anderer Regisseur seiner Generation vertrat das Politische so konsequent
und kompromisslos wie Christoph Schlingensief: angefangen von seinen
frühen Filmen ("Das deutsche Kettensägenmassaker", 1990), in denen
Hitler, Vergewaltiger und Amokläufer mehr als nur Unfug treiben, über
die revueartigen Theaterabende an der Berliner Volksbühne ("Rocky
Dutschke ’68", 1996) und die jedwede Form sprengenden TV-Arbeiten ("Talk
2000", 1997), in denen Schlingensief als Moderator die
Peinlichkeitsgrenze des Trashgenres Talkshow fröhlich überschritt, bis
hin zu Opern-Inszenierungen, mit denen er der Wagner-Bastion Bayreuth
("Parsifal", 2004) das Fürchten lehrte.
Theater, Oper, Aktionismus
Schlingensief war ein Wanderer zwischen den Genres, ein
Experimentator, der mit den Gattungen Film, Theater, Oper, Aktionismus,
Bildende Kunst spielte. Was die divergierenden Anstrengungen verband? –
Die permanente Verunsicherung hinsichtlich der Trennlinie zwischen Kunst
und Leben.
Bei den Aktionen außerhalb des Theaters funktionierten die
inszenierten Revolten mitunter grenzgenial. Der Apothekersohn aus
Oberhausen führte, ausgerüstet mit Megaphon und starken Sprüchen,
ungeahnte Möglichkeiten der Manipulation exemplarisch vor: Den
planvollen Betrug der Aktion "Bitte liebt Österreich", bei der 2000 in
Big-Brother-Manier mit (vermeintlichen) Asylanten in einem Container vor
der Wiener Staatsoper ein perfid-zynisches Spiel um den Gewinn einer
Aufenthaltsgenehmigung veranstaltet wurde, hielt ein Großteil der
Passanten für echt. Die Aktion geriet zum Skandal.
Schlingensiefs Parteigründung "Chance 2000", ein absichtsvoller
Zusammenschluss der Arbeitslosen und Ausgegrenzten, erlangte vor der
deutschen Bundestagswahl 1998 überregionale, weit über den Kunstkorridor
hinausreichende Aufmerksamkeit.
Schlingensiefs Inszenierungen unterwarfen sich gewöhnlich dem Prinzip
Gruppenerfahrung, sie folgten keiner Dramaturgie, glichen eher einer
Aneinanderreihung von Attraktionen, zusammengehalten von Improvisation
und Filmprojektion. Der Teufel war hier immer irgendwie los. Sein
erklärtes "Versagen im Erzählen von Zusammenhängen" entwarf er in
Anlehnung an Joseph Beuys’ "soziale Plastiken": Jeder Mensch kann durch
kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen.
Vorbildhaft trifft dies auf Schlingensiefs wohl umfangreichstes
Projekt zu: Im Februar 2010 legte er den Grundstein für ein Operndorf in
Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos im westlichen Afrika.
Der Motor der Schlingensiefschen Kunstaktivitäten war stets das
Aufgreifen von Themen, denen Gesellschaft und Politik mit schweigendem
Unbehagen begegnen. Und was wird mehr totgeschwiegen als der Tod selbst?
Deshalb war es nur konsequent, dass der Künstler seine eigene
Erkrankung – Anfang 2008 wurde bei Schlingensief Lungenkrebs
diagnostiziert – mehrfach künstlerisch thematisierte. Nach dem
szenischen Bericht "Der Zwischenstand der Dinge" und dem
Fluxus-Oratorium "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" wurde
auch die sogenannte Ready-Made-Oper "Mea Culpa" am Wiener Burgtheater
begeistert aufgenommen.
Spiel um die letzten Dinge
Bei diesen Aufführungen stand mehr auf dem Spiel als sonst. Es ging
um persönliche Einblicke in das Schicksal eines Schwerkranken, von
todernst bis zum Brüllen komisch wurden die letzten Dinge des Lebens
verhandelt. "Entweder wir leiden an diesem Abend mit, oder wir erleben
nichts", zeigte sich ein Kritiker hingerissen.
Zur Präsentation des Tagebuchs seiner Krebserkrankung "So schön wie
hier kann es im Himmel gar nicht sein" im Sommer 2009 begegnete man
einem entwaffnend offenen Künstler, voll ansteckender Lebensfreude und
Zukunftspläne. "Ich finde mein Leben super, möchte meine Zeit sinnvoll
nützen, etwas Nützliches, Konkretes schaffen für die, die nach mir
kommen", merkte Schlingensief damals im Gespräch mit der "Wiener
Zeitung" an. "Ich denk’ viel darüber nach, was sein wird, wenn ich tot
bin. Das ist gedanklich nicht zu lösen, was mich teilweise irre und
traurig macht. Ich hoffe, dass ich irgendwann die Gelassenheit bekommen
werde: Ich sterbe. Und das ist o.k."
Am Samstag erlag Christoph Schlingensief 49-jährig in Berlin den
Folgen seiner unheilbaren Krebserkrankung.
Printausgabe vom Dienstag, 24.
August 2010
Update: Dienstag, 24. August 2010 12:17:00
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