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17.05.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Island: Die Kunst ist eine wilde Party
VON ALMUTH SPIEGLER
Zum Start von Christoph Schlingensiefs neuem Projekt "Animatograph".

Hier trifft die europäische Platte auf die amerikanische, hier spucken Vulkane, Geysire und spuken in den langen taghellen Frühlingsnächten die Hausgeister, Elfen und nicht zuletzt der Alkohol. Trolle dagegen sollen schon weitgehend ausgestorben sein. Der Taxifahrer lacht und steuert die nächste Party an, Motto: "Alles, was Sie je über Island gehört haben, ist wahr". Und das ist nicht gelogen. Auf diesem Ei(s)land zwischen Norwegen und Grönland ist nicht nur die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Kultur und Natur - ein Drittel der 300.000 Einwohner sollen Künstler sein - eine labile. Auch die Erdkruste ist eine dünne. So dünn, dass schon die Kellerstiege eines ehemaligen Lagerhauses in Reykjavik reicht, um abzutauchen in eine brodelnde, stinkende, speiende, unerträglich intensive Ursuppe.

Christoph Schlingensief goss sie am Samstag zischend in diese dunklen unterirdischen Raumfluchten und hunderte Hungrige folgten ihr bereits, tapsten die steilen Treppen hinunter und rochen schon den Trockenfisch-Friedhof, der ums Eck von der Decke schwebt: "Welcome in Iceland". Willkommen also im völligen Wahnsinn, willkommen im neuen Programm, im "Spa", im Wellness-Recreationcenter des 44-jährigen Peter Pans der Gegenwartskunst.

Hier in Islands Unterwelt scheint Schlingensief jetzt - finanziert von Francesca Habsburgs Wiener "Thyssen-Bornemisza Art Contemporary"-Stiftung - Atem zu holen nach seiner alle Sinne betäubenden Wirbel-Karriere der letzten Jahre, die keine noch so trotzige Provokation seinerseits aufhalten konnte. Nach dem Pfahlsitzwettbewerb seiner "Church of Fear" bei der Biennale Venedig, seinen theatralischen Ausbrüchen an der Berliner Volksbühne ("Atta Atta"), im Burgtheater ("Bambiland") und schlussendlich in Bayreuth ("Parsifal"), wütet der deutsche Drama-Star jetzt in einem Kellerloch in Reykjavik. Hier schmeißt er wütend aber in perfekter Choreografie alles zusammen, was sich zuletzt in seiner Biografie angesammelt hat, hier entsteht sein höchst eigenes penetrantes Abenteuerland - ein buntes, schreiendes, rasendes Schlingensief-World: der "Animatograph", benannt nach einem der historischen Filmvorführapparate, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Bildern das Laufen lernten.

Eine riesige Installation, die von hier aus durch die Welt reisen wird wie ein gefräßiger Staubsauger, in dessen Beutel sich die verschiedensten Bilder, Objekte, Geräusche, Performances, Mythen und Musiken zu einem diffusen Gewebe verwirren sollen. Nichts weniger als eine "universale Kultur" will Schlingensief so widerspiegeln, einen "Gesamtorganismus", eine "Synthese von Kunst und Leben" kreieren. In Island bekam man einen ersten Vorgeschmack dieses gewohnt heillos anmaßenden Ansinnens.

Von einer Höhle kriecht man in die nächste, "Come in" steht über einem Loch im Bretterverschlag und weiter geht's, den Pfeilen am Boden nach. Ein Film zeigt eine verrückte Truppe, die Islands historischste Stätte "Thingvellir" heimsucht, wo 930 der isländische Freistaat ausgerufen wurde. Eine Zwergin mit weißer Perücke und Krönchen stellt sich als Islands Präsidentin vor, ein Wilder will sie mit seinem Holzkreuz erschlagen, Jesus Christus kommt vorbei, ein Mann in illustrem Vogel-Strauß-Kostüm stakst durch die Gegend. Am Boden vor der Filmleinwand aber liegt Bayreuth - wie bei einem Spielbrett ist die Dirigenten-Stelle für Hans Knappertsbusch eingezeichnet. Alles ist mit völlig unkonsumierbaren Massen an Fotos und Texten austapeziert, hier ein Auszug aus Islands Heldensagen, der "Edda". Jetzt aber das Epizentrum: Eine wuchtige Drehbühne rotiert im Raum, jeder darf mitspielen, durch die Abteile streifen, am dreckigen Klo vorbei, Filme anschauen, Beuyssche Tafel-Kritzeleien mit anarchistischen Verschwörungstheorien entziffern, plötzlich Thor und Odin gegenüberstehen. Und immer wieder dröhnt es dazu aus den Megafonen "This is the world's announcement". Alles dreht sich, alles bewegt sich, wird irrer und irrer - hinter der Glasscheibe einer "Beuys- und Roth-Academy" randaliert ein als Braut verkleideter Schlingensief. Flucht in den letzten Raum: auf einem kaputten Auto thront ein Vogel Strauß. Ein morbides, traumhaftes 3-D-Stillleben. Und aus.

Eine wahrhaft orgiastische Ouverture für die Welttournee des Animatographen. Fast zu unwirklich. Und wirklich: Über all diesem bedeutungsschwangerem Wirrwarr aus Schlingensiefs gesammelter Privatmythologie, dieser grandiosen Gedankenmüll-Maschinerie, dreht sich ganz unscheinbar eine winzig kleine Disco-Kugel. Die Kunst ist eben doch eine einzige, wilde Party.

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