Hoffnung, Angst und Ayurveda
Schlingensief. In „Mea Culpa“ zeigt der deutsche Theatermacher seine Wunden und entdeckt, trotz Wirtschaftskrise, Arbeit als Chance.
Karin Cerny Wien (SN). Zum Wesen einer Krankheit gehört, dass sie sich alles schamlos aneignet. Das Virus dringt in den Körper und polt von innen heraus alles nach eigenen Gesetzen um. Wie der deutsche Theatermacher Christoph Schlingensief in „Mea Culpa“ – laut Untertitel eine „ReadyMadeOper“, die am Freitag am Burgtheater in Wien uraufgeführt wurde – beweist, hat er das Prinzip Krankheit verstanden: Einem Virus gleich taucht Schlingensief in so fremde und disparate Welten wie Richard Wagners „Parsifal“ und David Lynchs’ Filmalbträume, in Joseph Beuys’ Kunstschamanismus und in die lächerliche Welt von Ayurvedakuren, er befällt sie und macht sie sich zu eigen.
Eben weil Christoph Schlingensief so tief und unwehleidig bis in die Mikrostruktur des Prinzips Krankheit eindringt, ist „Mea Culpa“ nicht gefühlsduselig, obwohl sich der Abend explizit mit Schlingensiefs eigener lebensbedrohlicher Erkrankung an Lungenkrebs auseinandersetzt.
„Mea Culpa“ ist privat – und zugleich auch nicht. Im Unterschied zu seinen bisherigen Wiener Arbeiten lässt sich Schlingensief (bis auf einen persönlichen Kurzauftritt) durch den Schauspieler Joachim Meyerhoff als Alter Ego auf der Bühne vertreten. Meyerhoffs erstaunlich zurückgenommenes Spiel nimmt jede Hektik aus der Inszenierung. „Mea Culpa“ ist viel konzentrierter und stringenter als frühere Arbeiten Schlingensiefs.
Trotz überbordender Dissonanzen im Bildlichen (Videos, die permanent flimmern) und Akustischen (Soundsamples, die eine beachtliche Lärmkulisse erzeugen) liegt über dem Abend die heitere Gelassenheit eines Überlebenden, eines Mannes, der noch viel vor hat, der zurückblickt, um nach vorn zu schauen. Schlingensief feiert seine Wiederauferstehung von den Fast-Toten, und kann dabei viel über sich selbst lachen.
In seiner Chronologie folgt „Mea Culpa“ biografischen Eckpfeilern: Es beginnt mit Schlingensiefs „Parsifal“-Inszenierung in Bayreuth und endet mit seinem Wunsch, in Afrika ein Festspielhaus zu eröffnen („Bayreuth wird vor Neid erblassen“). Dazwischen liegen Stationen in der Arbeit und im Leben (beides ist eigentlich nicht zu trennen) eines zeitgemäß upgegradeten Gesamtkünstlers – oder soll man sagen: eines Gesamtkunstwerks namens Christoph Schlingensief.
„Ein Blick aus dem Jenseits ins Hier“ nennt sich der erste Akt: In einer Zauberberg-Atmosphäre hängt eine Krankengesellschaft in einem Ayurvedahotel in Bad Schandor herum. Wagner-Arien werden mit Schlingensief-Texten infiltriert („Quadrofonie der Heilung: Afrikas Ayurveda!“).
Stilsicher pendelt der erste Teil zwischen Kammerspiel, Opernaufführung und Installation (die grandiose Drehbühne, eine wilde Mischung aus Ritterburg und Wellnesstempel, stammt von Janina Audick). Witz und Bedrohung halten sich geschickt die Waage. Man muss den Krebs mit seinen eigenen Mitteln bekämpfen, heißt es: „Der Krebs muss Krebs bekommen.“ Joachim Meyerhoff klettert in eine Krebszelle aus Pappmaché und sagt: „So ein Blödsinn.“ Alles Gesagte wird sofort zurückgenommen: In der Krankheit gibt es eben keine Sicherheit. Krankheit heißt Trial and Error, Versuch und Irrtum.
Nach der Pause wird der Abend disparater und oft auch ein wenig angestrengt in seinem Versuch dunkle, grenzüberschreitende Stimmungen herzustellen. Die rührendste Szene aber ist, wenn Meyerhoff/Schlingensief seinem toten Vater begegnet und ihn zurückstößt, weil es weitergehen muss, weil er weiterleben und weiter inszenieren will: Arbeit als Chance.
Längst ist Christoph Schlingensief in seiner klassischen Phase angekommen: Faust und Parsifal sind jetzt seine künstlerischen Alter Egos. Gerade dem Tod entsprungen, muss sofort ein neues Großprojekt her: ein Festspielhaus in Afrika! Damit positioniert sich der große Mythenverschmelzer aber auch irgendwo zwischen Fitzcarraldo-Größenwahn und André-Heller-Naivität.
Und man sieht, wie zutiefst altmodisch Christoph Schlingensief in seinem Glauben an die Kunst und den Künstler letztendlich ist: Er will nicht nur sich retten, sondern am besten gleich einen ganzen neuen Kontinent. Als Virus ist Schlingensief eben unersättlich.