"Laden“ leuchtet nächtens rot und verwegen über dem „Tagwerk“, dem Shop der Caritas. Doch darin gibt es dreieinhalb Wochen lang weniger etwas zu kaufen, als viel Ausgerissenes zu erleben. Auch der Gast wird im „Hotel“ Mariahilf nicht zu Bett gehen, sondern kurzfristig Teil und Publikum von seltsamen Begegnungen. Sofern er die Programmzeit nicht gerade beim „Wirt“ versitzt oder im „Cafe“ versumpert.
In Ermangelung eines eigenen Hauses macht sich der steirische herbst
jedes Jahr neu auf Wanderschaft und hat schon an vielen Grazer Orten
Wurzeln auf Zeit geschlagen: in entrischen Werkshallen und alten Kinos,
manchmal wurde temporäre Architektur aufgestellt. Heuer ist das Revier
so groß wie noch nie, ein ganzer Festivaldistrikt wurde in einem
Stadtviertel, dem neuralgischen Teil des Lendviertels zwischen
Südtiroler Platz und Mariahilferplatz, installiert. Oder besser gesagt:
Dieser Festivaldistrikt wurde markiert, denn die Grenzziehung erfolgte
nicht über gröbere Eingriffe in die Bausubstanz (und in längerer
Absprache mit Ämtern und Hausbesitzern), sondern vielmehr über
abgrenzende Begriffe, wie die Künstlerin Maruša Sagadin erklärt. Es
brauche keine Tür, um eine Schwelle zu erzeugen, es reiche ein einziges
Wort. Große blaue Leuchtlettern an die Fassaden montiert, sagen beim
Eintritt in den Distrikt zu den Leuten auch nicht „Willkommen“ sondern
irritierend anderes: „No Go“ an der einen Gasse, „Silence“ an der
anderen, „Off“ und „Only“ an einer dritten, vierten.
Gentrifizierung.
Muss der Neugierige jetzt also leise eine Zone betreten, in der es
sonst ziemlich lebendig zugeht, auch abends? Darf der Uneingeweihte
denn in den Kern der Grazer Kreativszene vordringen? In dieses Viertel,
dieses Grätzel, das langsam von der Gentrifizierung erfasst wurde? „Die
Mieten gingen hinauf, die ersten wanderten bereits ab“, erklärt die
steirischer-herbst-Dramaturgin Kira Kirsch. Schon insofern passe der
Ort zum Thema des Mehrspartenfestivals – „Zwei Welten. Reale und
irreale Parallelsysteme.“ Daran könne vieles anknüpfen – von skurrilen
Performances bis zu Führungen eines sehr speziellen Touristoffices.
Dahinter stand auch die Idee, die vielen kleinen Strukturen etwas
zusammenzufassen. Das macht es für Künstler leicht, darin Geschichten
aufzugreifen und zu verdichten.
„Wird eine Konzentration von Kreativen an einem Ort nicht zu einer gated community?“, fragt Kirsch. Man „schließt sich ab und definiert Sperrzonen“, kommentiert Sagadin. Ihre Leuchtbotschaften sind freilich paradoxe Interventionen, die an das Thema Ausgrenzen-Einschließen ironisch herangehen. Als Künstlerin im öffentlichen Raum ist ihr genau das Gegenteil ein Anliegen, man soll eintreten und Platz greifen, die Straße in Anspruch nehmen und das Öffentliche vor wirtschaftlicher Vereinnahmung sichern.
„Wenn man einmal herinnen ist, dann ist alles ganz freundlich.“ Da steht dann über dem Wirt in roten Lettern „Wirt“ geschrieben, über dem Laden ein „Laden“, über der Bar ein „Bar“. So benimmt sich ein Stück Stadt wie ein Dorf, indem es sein Inventar bezeichnet. Das klingt einfach, vertraut, heimelig. Zugleich dreht Sagadin die Ironieschraube noch ein bisschen weiter: Es sei halt das Schicksal vieler mittlerer Städte, urbaner sein zu wollen, als sie es oft sind, erklärt die heute in Wien lebende Künstlerin und Architektin, die auch in Graz studiert hat und aus Ljubljana stammt. „Viele schmücken sich gern mit internationalen Starbauten. Aber solchen Möchtegerncitys begegnen wir mit einem Augenzwinkern, in dem wir alles überspitzen – eben durch überdimensionale Leuchtschriften, die das Dörfliche bezeichnen.“ Sagadin selber erlebt die Ambivalenz: „Urbanität gibt es auch in Graz. Ich muss nicht unbedingt in New York arbeiten.“
Vonseiten des Festivals gab es, so Kirsch, schnell die klare „ästhetische Entscheidung, dass man das Vorhandene nicht noch verstärkt, sondern versucht, zu brechen und dagegen zu halten, was Graz nicht so bietet: Urbanität durch große Leuchtschriften, große Ankündigungen, durch Licht.“
Noch einen kleinen Bruch macht das Konzept für den Festivaldistrikt:
Auf der Straße stehen lange tischartige Skulpturen „ohne klare
Funktion“, aber so einladend, dass man auf ihnen sofort herumsitzt,
schaut, plaudert. Hier soll man alles dürfen, nur bloß nicht
konsumieren müssen, meint Sagadin, der die Ökonomisierung des
öffentlichen Raumes generell viel zu weit geht. Bewusst hat sie diese
„Bänder“ so in die Fußgängerzone gestellt, dass man direkt in die
Auslagen blickt. Was sich lohnt, denn hier finden laufend Aktionen
statt– das ganze Viertel ist während des Festivals bespielt. Das
Material verweist auf den urbanen Hintergrund: „Eternit und Beton“. Und
auch die Oberfläche zitiert den öffentlichen Raum – die Tatsache, dass
Graffitis immer wieder übermalt werden. Die Skulpturen sind wie
„gekippte Mauerteile, auf denen man sitzen kann“.
Jägerstüberldisco.
Zwischen dem Sitzen, Schauen und Plaudern auf der Straße, machen die
Gäste ihre Runden in die Läden der Kreativindustrie vor Ort, gehen auf
eine legendäre Frittatensuppe beim Mohrenwirt, zu Elektrokonzerten in
den Club auf der Hinterseite des Kunsthauses. Und ins Hotel Mariahilf
eben, das sich dem steirischen herbst von Anfang an aktiv als
Spielplatz anbot: für Vorträge, Kinoabende, Minibar-Partys,
künstlerische Einlagen im Frühstücksraum und einem ominösen Zimmer. Und
spät abends, eine alte herbst-Tradition, fallen die Flaneure mit der
Tür in die „herbstbar“, wo sich Jägerstüberloptik und Discoillumination
gut vertragen. Interessantes Licht versöhnt das Mischpult mit dem
Kachelofen, je näher das Morgengrauen rückt. Nicht alles ist an einem
einzigen herbst-Tag absolviert, so kommt man wieder. Auch weil man
sowieso hierher käme, in dieses so gar nicht abgeschottete Viertel.