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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst | Documenta 11 
11.06.2002
13:03 MEZ
Wissen aus der Maschine
Die Documenta 11 verdoppelt die Welt. Der Künstler füllt die Archive.

Foto: documenta/Ataman
Kutlug Ataman, "Never My Soul", 2001, Detail
Courtesy of the Artist and Lehmann Maupin Gallery, New York)

Foto: documenta/Ponger
Aus Lisl Pongers "Sommer in Italien": Wenn das Bewusstsein stimmt, spielt die Qualität keine Rolle.

Lisl Ponger, "Piazza Gaetano Alimonda (Rename)", August 2001 (Detail)

Kunst soll Wissen produzieren, soll auch noch die letzten Winkel der Innen- und Außenwelten festhalten. Die Documenta 11 verdoppelt die Welt. Der Künstler füllt die Archive.


Kassel - Harald Szeemann hätte das Werk von Veronica Read ausgestellt. Frau Read kultiviert "Rittersterne", eine Familie von Zwiebelpflanzen, die von den tropischen Wäldern aus global die Vorgärten und Fensterbänke erobert hat. Und eben auch das Herz der Veronica Read - ihr ganzes Herz. Ihr Zustand ist an den der Pflanzen gebunden, kein Winkel ihres Vorstadtidylls ist einem anderen Zweck denn der Hege ihrer Monokultur gewidmet. Veronica Reads Obsession hat zur größten Hippeastrum-Sammlung Großbritanniens geführt - und zu einem eigenwilligen Privatleben. Eigensinn galt 1972 noch als Indiz für Künstlerschaft, als Szeemann mit seiner Documenta 5 die Blicke auf das Abseitige fokussieren, derart auf das Künstlerische im Trivialen verweisen wollte. Unmittelbar sollte der Betrachter bei Veronica sein.

Heute ist der Eigensinn in Verruf gekommen. Der Blick auf Veronica erfolgt aus der Distanz. Kutlug Ataman ist Künstler, Dokumentar und Spielfilmregisseur und Türke, der in London lebt. Er hat als erster unabhängiger türkischer Filmemacher Homosexualität zum Thema genommen und mit Never My Soul dann auch gleich das Innenleben einer transsexuellen türkischen Prostituierten detailliert ausgeleuchtet.

Vor diesem Hintergrund - in diesem Kontext - muss Veronica Read heute gesehen werden. Das erst ergibt Fragen hoch zehn, das eröffnet ihre globale Dimension, so erst kann die Nato ins Spiel gebracht werden, so erst können die Kulturwissenschaften kritisch ansetzen. Ataman hat den politischen Blick. Frau Read wird simultan auf vier Leinwänden seziert, bis auch noch die intimste ihrer Sehnsüchte bestimmt, bis auch die letzte aller denkbaren Fragen eines Botanikers an Read beantwortet ist.

Okwui Enwezor definiert Kunst als etwas der Produktion von Wissen Zweckdienliches. Sein Kokurator Sarat Maharaj nennt die Kunst eine "epistemologische Maschine zur Wissensproduktion". Kutlug Ataman ist einer aus dieser Serie neuer Künstler: Er häuft (vorhandenes) Wissen an und verdoppelt so - ohne weiteres Ergebnis - Gegenwart. Die Einladung zur Documenta dient der Definition seines Tuns als künstlerisch. Er ist hinsichtlich des plattformweise eingeforderten Bewusstseins von, der Aufmerksamkeit für und des Nachvollziehens von Anderem a k t i v. Sein Leben produziert Dokumente. Das reicht. Da die weder wissenschaftlich exakt noch journalistisch genau noch dekorativ, aber im aktuellen Verständnis korrekt sind, sind sie Kunst.

Mit No Logo fand Naomi Klein den wohl besten Titel für ein Buch wider die Globalisierung: weltweit verständlich, leicht zu merken, von tadelloser Haltung. Und der Titel brachte auf den Punkt, was unter dem Deckel ausuferte: Ecke Bonk wollte es ihr für die Documenta 11 gleichtun. Trotz aller Sachlichkeit gelang es nicht, der Schau den Mythos auszutreiben, die Besucher durch die Marke auf unvoreingenommen zu stellen. Nach Kassel wird immer mit Erwartungshaltung gereist.

Außerdem ließ er alle 350.000 Einträge des Wörterbuchs der Gebrüder Grimm scannen. Per Zufallsgenerator werden beliebige daraus an die Wände eines gestylten Zimmers projiziert. Wenn alles gut geht, werden in 100 Tagen etwa 700.000 Menschen mit dem Werk konfrontiert worden sein. Darunter Tausende zum ersten Mal. Schön!

Lisl Ponger hält fest, was die Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua und die Maßnahmen zum Wohl der dort Tagenden an Spuren in die Stadt eingeschrieben haben. Graffiti und verschweißte Kanaldeckel. Sentimentale Schnappschüsse aus einer Haltung gegen die Globalisierung und für eine ephemere Documenta des ausufernden Schmollens.

Öd ist jetzt nur, dass der Respekt vorm Detail den Überblick verstellt. (Markus Mittringer/DER STANDARD, Printausgabe, 11.6.2002)


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