Martin Strauß Karl-Heinz Ströhle. Malerei heute "Mal ist das Chaos ein riesiges schwarzes Loch und man versucht einen labilen Punkt in ihm als Zentrum zu fixieren. Mal organisiert man um das Zentrum eine ruhige und in sich gefestigte ‘Haltung’ (weniger eine Form): das schwarze Loch ist ein Zuhause geworden. Mal erweitert man diese Haltung um eine Fluchtbewegung, heraus aus dem schwarzen Loch. Das sind nicht drei aufeinanderfolgende Stufen einer Evolutionsgeschichte, sondern drei Aspekte ein und derselben Sache, nämlich des Ritornells. Man findet sie in Erzählungen, Horrorgeschichten, Märchen und auch in ‘Liedern’. Das Ritornell enthält diese drei Aspekte, es macht sie simultan oder vermischt sie: mal so, mal so, mal so." Die kurze Passage aus Deleuze/Guattaris "Tausend Plateaus" scheint, sachlich wie atmosphärisch, ein Wink, ein guter Hinweis. Das Ritornell: das Wiederholen, aber ebenso die Simultaneität, Nebeneinander und Auseinander oder gar Gegeneinander, Nähe und Ferne, Nähe oder Ferne. Nur hat das Ritornell bei Ströhle, wenn man so sagen will, nicht bloß drei Zeilen, drei Möglichkeiten, sondern viele, auch sich widersprechende Thesen. Die Kunst - und die Welt - wird weniger als ein großes, sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfahren, sondern eher als ein Netz, mit verknüpften Beziehungen und Kreuzungen, Gewirr. Nicht aber, was das einzelne Werk betrifft. Da gilt: Genauigkeit, Einfachheit der Mittel, hohe Präzision. Nie zuviel auf einmal. Kein Vermischen heterogener Elemente, keine postmoderne Beliebigkeit (das "realistisch" gezeichnete Vögelchen auf dem "abstrakten" Bild). Jedoch die Einstellung der Sache gegenüber ist ambivalent. So wie die Geschichte von Kunst und Malerei nicht mehr unter dem Paradigma einer Evolution betrachtet wird (das soundsovielte letzte Bild). Man kann nicht alles auf einmal sagen, auch nicht über ein und dieselbe Sache. Und die ist nicht zuletzt die Malerei selbst, die immer auch Malerei über Malerei ist, die vergangene wie die gegenwärtige, die der anderen wie die eigene. Dies aber, wie gesagt, nur als Hinweis darauf: die vier hier vorgestellten Bilder, selbst ambivalent zueinander, repräsentieren nur eine von vielen Möglichkeiten. Unter den drei von Deleuze/Guattari genannten stehen sie für die zweite, die "gefestigte Haltung". Genauso wie es unter Ströhles Werkreihen welche gibt, die jene "Fluchtbewegung" initieren, oder solche, wo eine chaotische Struktur dem Betrachter die Suche nach einem "labilen Zentrum" aufnötigt. Die Festigkeit hier verdankt sich einem besonderen Produktionsprozess (die in einen fixen Rahmen gezwängten geschlossenen Metall- oder Kunststoffbänder): so ist das Gemälde nur das Abbild, der buchstäbliche Abdruck einer physischen Spannung. Die Formgebung erfolgt, bis zu einem gewissen Grad, bewußt nicht nach ästhetischen, sondern nach physikalischen Prämissen. Nicht Geschmackskriterien sind unmittelbar maßgebend (dieser Bogen wäre geschwungener schöner, jene Arabeske sollte ausladender sein). Fügt der Maler ein weiteres Band hinzu, nimmt er eine Linie weg, verändert sich einfach dadurch der Druck der Zellen gegeneinander, ihre Ausdehnung zueinander, wechselt der Verlauf der Formen. Das Entscheidende jedoch ist der fixe Rahmen. Wieder kann man in den "Tausend Plateaus" eine Stelle finden, die im Bezug auf die Frage der Bildgrenze geradezu eine Beschreibung dafür liefert, welche spezifische Qualität Ströhle bei diesen Arbeiten dem Bildrand gibt. Eine Bemerkung zum Begriff des Anomalen, die ein Schlaglicht wirft auf die besondere Funktion, die da - in einer eigentümlichen Gegenthese zu wesentlichen Positionen abstrakter Malerei - dem orthagonalen Formatrahmen zuerkannt wird: "Was ist nun das Anomale? Es ist zwar ein Phänomen, aber ein Randphänomen. Unsere Hypothese lautet: eine Mannigfaltigkeit wird weder durch Elemente definiert, die sie in extenso zusammensetzen, noch durch Eigenschaften, die sie im Auffassungsvermögen zusammensetzen, sondern durch die Linien und Dimensionen, die sie in ‘intensio’ enthält. Wenn man die Dimensionen ändert, wenn man eine hinzufügt oder wegnimmt, verändert man die Mannigfaltigkeit. Daher gibt es bei jeder Mannigfaltigkeit einen Rand, der keineswegs ein Zentrum ist, sondern eine umrandende Linie oder die äußerste Dimension, von der aus man die anderen ermessen kann." Der Rand als das Anomale. War dagegen nicht die gesamte geometrisierende Tendenz in der abstrakten Malerei seit den zwanziger Jahren (auch) der Versuch, mit den Formatgrenzen, dem Rechteck des Bildrands zurande zu kommen, die Bildgrenze gewissermaßen als immanenten Teil ins Bild einzubeziehen, sie einzuverleiben? War die Reduktion auf eine vom Rechteck bestimmte innere Bildstruktur nicht auch bloßer Reflex auf die Orthagonalität des Rahmens, das Bemühen, eine qualitative Annäherung von Bild-Außen und Innen herzustellen? Der Rand gerade nicht als eine, im Verhältnis zum Innen, ganz andere, äußerste Dimension, sondern vielmehr auf demselben Niveau, buchstäblich parallell. Genauso dann in der objektivierenden amerikanischen Nachkriegskunst bis hin zu Frank Stellas "shaped canvas"-Arbeiten der sechziger Jahre, wo die Außenform des Bildes untrennbar mit der Binnenstruktur verquickt wird. Hier jedoch ist - mal so - der Rand eine vollkommen unvermittelte Größe. Er ist auch nicht bloß die Linie, die den Ausschnitt des Bildes vorgibt, sondern wirklich die Grenze, die das Außen scharf von der organisch-runden Innenwelt trennt, und die, wichtiger noch, selbst in strikter formaler Diskrepanz von diesem Innen geschieden, ihm gegenüber steht. Die Bewegung aber wirkt von Außen nach Innen. Nicht wie bei Pollock, wo die Formatgrenzen lediglich das Feld vorgeben (innerhalb dessen sich der Maler tatsächlich und tätig bewegt und alleine seine Spuren zieht), und wo die explosive Intensität des Zentrums den Rändern zu einfach ausläuft und sich verliert. Im Unterschied dazu entsteht hier Intensität ausschließlich durch den Druck von Außen her, die Zellen werden ganz dicht aneinander gepresst. Das aufgestaute Innere wird völlig von der einengenden äußeren Grenze determiniert. Wir alle aber wissen, dass auch eine derartige Formel eine passable Metapher abgibt für so manche Bereiche unserer Lebenswirklichkeit, gleich ob wir diese ein "Zuhause" nennen oder nicht. in:? 2001