Was ist eine Kulturnation? Die Hymnen klingen aus, der Begriff Kultur verliert seine Trennschärfe. Abseits von ihm - quer über die Nationen hinweg - bilden sich neue Interessengemeinschaften. Ein Einwurf aus Anlass eines Symposiums in Wien. Wolfgang Zinggl Unlängst in Glasgow. Der Galerist Greg Hilvary eröffnet eine Ausstellung und weist auf den unverkennbaren Bezug der Künstlerin zur schottischen Kultur hin, die sich zwar ständig verändere, in ihrem Wesen aber etwas Eigenständiges, Authentisches behält. Eigenständiges: Was war damit gemeint? Ein gemeinsamer Nenner? Eine Wurzel, die aus Landschaft und Klima Menschen zu Schotten werden lässt, mit rotblondem Haar, stets bereit, den Durst mit einem Schluck Whisky zu stillen? Kultur kann als eine Art Corporate Identity verstanden werden, als Klammer für gemeinsame Ausdrucksformen, Sitten und Lebensweisen. Dazu gehören Sprache, Kunst, Währung, Ess- und Kleidungsgewohnheiten, kurzum alles, was Menschen von anderen abgrenzt. Für die Identitätsbildung haben bestimmte ursächliche Faktoren einen stärkeren Einfluss als andere. Im Fall der regionalen Kulturen wie in Schottland mögen es vielleicht tatsächlich die gemeinsame Landschaft und das Klima gewesen sein, die sich über Jahrhunderte auf die Lebensgewohnheiten der lokalen Bevölkerung auswirkten. Auch der gemeinsame Staat kann ein zentrales Motiv für Kultur sein. Nationalkulturen dienen vornehmlich dem Ausdruck der Souveränität. Staatszugehörigkeit und politische Landesgrenzen sind dann mehr wert, betont zu werden, als anderes. Unlängst in Wien. Die Kulturministerin eröffnet irgendein Museumsquartier und lobt Österreich als Kulturnation. Was ist eine Kulturnation? Im Unterschied zur Nationalkultur wirkt der Begriff weniger nationalistisch. Er betont lediglich, dass die genannte Nation (in diesem Fall Österreich) eine Kultur hat. Nicht mehrere oder viele Kulturen - sonst wäre sie eine Kulturennation. Das klingt zunächst nach einer Wortklauberei Karl Valentins, für den ein Semmelknödel nur aus einer Semmel gemacht sein konnte, weil er sonst Semmelnknödel genannt werden müsste. Im Fall der Kulturnation scheint es aber just auf diesen Unterschied anzukommen. Das Wort macht geradezu deutlich, dass etwa Österreich kein Land mit vielen unterschiedlichen Kulturen ist, sondern ein Land mit einer einzigen, besonderen Kultur. Diese Kultur - mit der sich Österreich eine Identität schaffen möchte - stützt sich auf historische Werke der Malerei, Musik und Dichtung: eine Kultur der Kunstschätze. Die Gemeinschaft baut ihre Identität auf den Sammlungen alter Werke auf, als wären die heute Lebenden für diese Kunstschätze rückwirkend verantwortlich oder hätten es im Blut, auch solche zu produzieren. Nicht ohne Grund heißt es auch in der Bundeshymne: "Volk, begnadet für das Schöne". Ein nationalistischer Unterton schwingt auch mit der "Kulturnation" mit. Implizit behauptet das Wort, manch andere Nation hätte keine nennenswerte Kultur, auf die sie stolz sein könnte - wäre also kulturlos. Hätten alle Staaten nennenswerte Kulturen, bräuchten einzelne keine besondere Hervorhebung. Und würde Österreich betonen, innerhalb seiner Grenzen viele verschiedene Kulturen zu pflegen, bräuchte es schon gar keine Auszeichnung, denn viele Kulturen gibt es überall, wo es Menschen gibt. Die Variabilität von Kulturen entsteht ganz automatisch und trotz gegenteiliger Bemühungen. Neben dem Multikulturellen finden sich - auch innerhalb der Ethnien - ganz andere Unterschiede, genauso wie auch innerhalb von Staaten. Eine feministische Tierschützerin in Schweden hat vermutlich mehr Affinitäten mit einer ähnlich denkenden Afrikanerin als mit einem "Landsmann", der als Viehtransporter im großen Stil sein Geld verdient. Freilich gibt es noch genügend Klischees und Stereotypen, die sich auf geografische, ethnische und politische Grenzen stützen. Mit einem Voranschreiten kosmopolitischer Einstellungen lassen sie sich aber immer weniger begründen. Ihre Kategorien verlieren vor allem an Bedeutung, weil sich Menschen über alle Grenzen hinweg ständig austauschen können. Trotz demonstrativer Signale und Wettkampfhysterien bei militärischer Rüstung, Bruttonationalprodukten, Kunstbiennalen oder Sportveranstaltungen geht den staatlichen Kulturen deshalb langsam die Luft aus. Dennoch entpuppt sich die Annahme einer Konvergenz, einer Uniformierung der Gesellschaften, die frühere Vorstellungen zur Moderne geprägt haben, als Irrtum. Die alten nationalen, ethnischen und religiösen Differenzen wurden lediglich von ausdifferenzierteren Kulturen abgelöst. Menschen sind ständig auf der Hut vor Gleichschaltungen, und die Vorstellung von einer Welt ohne Unterschiede macht vielen von uns eher Angst als die sozialen Ungerechtigkeiten. Und so bilden sich quer über den Globus neue Interessengemeinschaften mit unterschiedlichen Zukunftsvisionen. Sie negieren keineswegs die weltweiten Ähnlichkeiten in der Beschäftigungs- und Industriestruktur, in der Bildungs- und Städteentwicklung, und schon gar nicht negieren sie die internationalen Probleme: die Verunreinigung von Luft und Wasser, die Massenvernichtungswaffen und Monopolisierungen. Es ist gerade das Bewusstsein um diese Gefahren, das Gesellschaften mit unterschiedlichen Ansichten zum Umgang mit den Problemen entstehen lässt. Nicht Islam gegen Christentum, USA gegen Japan, Kurden gegen Türken lautet der Kulturenkampf, sondern Individuum gegen Kollektiv, Progression gegen Stagnation, flache Hierarchien gegen steile. Es geht weniger um augenblickliche, kurzfristige Macht als um die langfristigen Entwicklungen von Herrschaftsformen, von Konzepten der Autorität und der politischen Mitbestimmung. Solche Variabilitäten und Gemeinsamkeiten verlangen nach völlig neuen Ausdrucksformen: Flaggen und Hymnen haben ausgedient. [] Der Autor ist Kulturtheoretiker, Bundeskurator für Kunst 1997-2000 und derzeit Sprecher des depot. Bis kommenden Samstag veranstaltet das depot Wien das Symposium "Kulturnationen. Klischees zur Konstruktion nationaler Identität". Sozial- und KulturwissenschafterInnen diskutieren jeweils ab 18 Uhr - unter der Leitung von Gudrun Harrer (Leiterin Außenpolitik des Standard) am heutigen Samstag, Giovanni Leghissa (Philosoph an der Uni Wien) am Montag und Ruth Wodak (Sprachwissenschafterin an der Uni Wien) am kommenden Freitag und Samstag. depot. Breite Gasse 3, 1070 Wien. Multinational bunt oder monochrom abweichend, Solidarität mit Aids-Kranken im Endstadium oder Freude am neugeborenen Leben: Längst laufen die identitätsstiftenden Linien kultureller Netze kreuz und quer durch tradierte Gebiete. Und keiner hat sie so - im Wortsinn - plakativ festgehalten wie der Fotograf Oliviero Toscani für benetton. Seine Arbeiten von 1984 bis 2000 sind nun in Buchform erschienen: Die lieben Kleinen für benetton 012 stehen am Anfang, die Insassen von Todeszellen am Ende einer langen und, wie der Begleittext unsentimental beschreibt, schließlich frustrierenden Zusammenarbeit mit dem Strickwarenkonzern. (Lorella Pagnucco Salvemini, Toscani - Die Werbekampagnen für Benetton 1984- 2000. EURO 35,90/ 160 Seiten, Knesebeck, München 2002.) red.