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Turnertempel Erinnerungsort

Ansicht: Turnertempel Erinnerungsort. 2011

10.11.2011

Öffentlicher Raum 1150 , Wien / Österreich, 1150

Ort: Turnergasse / Ecke Dingelstedtgasse, 1150 Wien

An der Kreuzung Turnergasse und Dingelstedtgasse im 15. Bezirk wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 der Turnertempel, eine der bedeutendsten Synagogen Wiens, in Brand gesetzt. Ein wertvolles Kulturgut, ein religiöser Ort, ein Ort der Besinnung und der Gemeinschaft wurde zerstört und über Nacht ausgelöscht. PassantInnen, NachbarInnen haben einfach zugesehen. Die Feuerwehr hat, wie ZeitzeugInnen berichten, das Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Hauser verhindert, in den Brand jedoch nicht eingegriffen.... […]

Die Idee war, einen Gedenkplatz zu schaffen, der als ungewohnt und irritierend empfunden wird und der die Geschichte, die sich an dieser Stelle vor über 70 Jahren abgespielt hat, wieder sichtbar und spürbar macht. Es sollte ein Platz entstehen, an dem nicht verschwiegen, kaschiert, zugeschüttet wird. Ein Ort, der aus seiner Umgebung herausfallt. Ein Ort für eingehende Betrachtung, aber auch für Trauer. Er sollte Schönheit entfalten, ein Bild zeichnen und zugleich einen Raum bilden. Ein Erinnerungsort, an dem sich die Vergangenheit erschließt, der sich aber ebenso der Zukunft öffnet. Ein Platz, der einfach und kompliziert zugleich ist. Und ein Platz, der sich deutlich vom städtischen Kontext abhebt: an einem Nicht-Ort zwischen Straßen und Gemeindebau, ein Zeichen zwischen verlorener Geschichte und verwischten Spuren, um Dinge deutlich zu machen, auf Sichtbarkeit zu beharren, etwas eindeutig anderes zu erzeugen und doch exakt und klar zu bleiben, nicht zu lavieren und nichts zu verwischen. Neben diesem Erinnerungsort sollte zugleich auch eine städtische Plaza als urbaner Treffpunkt und Aufenthaltsort entstehen. Über eine Rampe ist er barrierefrei zuganglich. Der Platz sollte einfach benutzbar und lebenswert sein. Der Entwurf sah eine Gliederung der Fläche vor, die grafische Gestaltung, Möblierung und Archäologie: Symbol-Bild und Raum zugleich. Nicht Rekonstruktion, sondern Konstruktion. Nicht Wirklichkeit, sondern ein metaphorischer Ort, der Erinnerung in Gang setzt. Der Platz erschließt sich gleichsam als imaginärer Raum des Dachstuhls nach dem Brand — wie ein Schrei, der das (Ver-)Schweigen durchbricht. Es ist ein Platz, der zum Nachdenken anregen soll, an dem sowohl die destruktive Kraft der Vergangenheit wie auch die lebensbejahende Energie der Gegenwart und Zukunft erkennbar sind. Ausgangspunkt war ein Brief der Stadt Wien von 1938, der die jüdische Gemeinde aufforderte, die Reste des Brands auf eigene Kosten räumen zu lassen. So ist der Platz nun durch schwere, dunkle Betonbalken gegliedert, die für das imaginär-reale Bild des verbrannten, eingestürzten Dachstuhls der Synagoge stehen. Die vorgefertigten Elemente schließen teils mit dem Bodenniveau ab, teils ragen sie aus dem Boden hoch, wachsen aus ihm heraus. Einige wurden, je nach Ausprägung, in den Boden eingelassen und fixiert, andere laufen in die an der Straße liegenden Stufen hinein. […]

In den Boden eingesunken muten sie an wie versteinertes Holz. Die betretbare Fläche ist bis ganz an die Bäume, die den Platz umgeben, mit einem beigen Sandbelag versehen. Er bildet einen klaren Kontrast zu den Balken und eine optische Verbindung zu Mosaikflecken, die schon auf der Straße vor dem Platz in den Boden eingelassen sind. Mit der Gestaltung nach dem Siegerentwurf binden sich im Inneren Räume, Nischen und Zonen. Die geplante Strukturierung durch die Betonbalken und die ihn umschließenden Stufen holen die Menschen auf den Platz herauf, halten sie dort fest und bieten ihnen Raum, aber auch Abstand. Die Balken sind mit einer haptischen Holzmaserung versehen, die von dem Abguss in einer strukturierten Holzschalung stammt. Zugleich sind sie Muster, Markierung und Möblierung.

Die Mosaikflecken erinnern an archäologische Fundstücke, die zwischen der tragischen Vergangenheit und einer zuversichtlichen Gegenwart und Zukunft vermitteln wollen. Den BetrachterInnen und NutzerInnen zeigt sich ein Vexierbild, ein Bild, dem Doppeldeutigkeit innewohnt: Unter den Linden sind in lapidar hingestreuten Mosaikflecken Früchte, Pflanzen, Blätter dargestellt, die der Torah entnommen sind und auf den jüdischen Glauben verweisen. […]

Hier tauchen Früchte wie Granatäpfel, Oliven, Feigen und Datteln als surreale Elemente auf, die von den Bäumen gefallen sein könnten. Es sind jedoch Früchte, die auf eine ganz andere Flora verweisen. Sie liegen, plastisch dargestellt, wie die Reste oder der Anfang eines Festmahls in der Platzfläche. Sie erinnern über die Jahreszeiten hinweg an andere Kulturräume und Religionen, an deren Pflanzen, Früchte und Geschmäcker. Daneben können die Mosaike auch als Anleihe bei den frühchristlichen Bodenmosaiken in den galiläischen Synagogen von Zippori aus dem 5. oder frühen 6. Jahrhundert oder bei Beit Alpha aus dem 2. Jahrhundert gelesen werden. Auch sie stellen stets auch Pflanzen wie Weinrauten sowie Früchte dar. Zudem besteht ein Bezug zu einem konzeptuellen pompejischen Bodenmosaik, das die Reste eines Festmahls zeigt. Dieses Mosaikvorbild schließt nun den Kreis zur Wandbemalung des Turnertempels im pompejischen Stil. So sind die Mosaike scheinbar archäologische Fundstücke, deuten jedoch eindeutig auf eine neuere Entstehungszeit: Oliven in einem Plastiksackerl, eine zertretene Getränkedose oder ein Pistazienstanitzel machen das deutlich. Eine emaillierte Tafel an der Wand des Nachbarhauses informiert in mehreren Sprachen über die Geschichte des Turnertempels, seine Zerstörung im Jahr 1938, das Verschwinden der jüdischen Gemeinde aus dem Bezirk und die Entwicklung der Neugestaltung des Platzes. Zudem finden sich dort Hinweise für eine vertiefende, multimediale Nachlese.

Text: Hubert Lobnig, János Kárász

[Quelle: www.koer.or.at]

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