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PAYER GABRIEL. monolithen und idioten

21.06.2018 - 18.08.2018

Neue Galerie, Innsbruck / Österreich

„Komplexität kennzeichnet unser Dasein und die Welt, in der wir leben. Alles Lebendige bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Chaos und Ordnung. Es folgt bestimmten Ordnungsprinzipien und Gesetzmäßigkeiten, welche uns auf mannigfaltige Weise bestimmen und beherrschen, vom Bauplan der Natur bis zum kulturellen Verhaltenscodex. Uns interessiert, wie sich Komplexität ästhetisch darstellt.“ (PAYER GABRIEL)

Micha Payer und Martin Gabriel arbeiten hauptsächlich mit dem Medium Zeichnung. In gemeinsam entwickelten Bildwelten beschäftigen sie sich mit unterschiedlichen interdisziplinären Fragestellungen.... Im Formfindungsprozess werden Ordnungen ausgelotet und nach Möglichkeiten und Spielarten der Wiederholung gesucht. Redundanz und Variation werden als formale Elemente eingesetzt.
In der Ausstellung monolithen und idioten werden Säulen exemplarisch und begrifflich gedehnt zum Ausgangspunkt eines Nachdenkens über Komplexität und ihre ästhetische Darstellbarkeit.
Wiederholung und Serialität sind die zentralen Elemente jedes komplexen Geschehens. Die Verwicklungen aus Einzelfällen und Mustern, Doppelgängern und Spiegelungen sind Anreiz für formale wie inhaltliche Auseinandersetzungen.

Die 11 über die Galerieräume verteilten Säulen bestehen aus quadratischen Stahlformrohren mit einem Profil von 2×2 cm und sind zwischen Boden und Decke eingespannt – pro Säule 4 Stahlformrohre in einem Abstand von 21 cm. Die Säulen bilden ein Raumschema und eröffnen eine Vielzahl an referenziellen Systemen, indem sie auf mannigfache Weise mit Bedeutung aufgeladen sind. Totempfähle und Antennen, Obelisken und Pestsäulen sind Anrufungsobjekte und Projektionsflächen, die dem Himmel und im weiteren dem Kosmos zugewandt sind. Monolithen und Idioten sind abgewandte Säulen, die für sich stehen. Der Begriff Idiot interessiert Micha Payer und Martin Gabriel vor allem etymologisch – in der Antike war der Idiot eine Privatperson, die auf eigenen Wunsch nicht am öffentlich-politischen Leben teilnahm – und gleichzeitig philosophisch, im Sinne einer Person mit Eigenart. Den Idioten spielen, heißt ganz anders zu denken, oder im Denken einen neuen Anfang zu nehmen. Der Idiot steht außerhalb des Konformitätszwanges einer Gesellschaft. Als Begriff ist er wertfrei und steht für sich gleichsam einer Säule.

207 Zeichnungen im Format A4 aus der Serie Apologie des Zufälligen werden modulartig, lückenhaft angeordnet und perspektivisch zerteilt, gemeinsam mit 47 Spiegeln zu Fragmenten von Säulen. Der Titel Apologie des Zufälligen bezieht sich auf die gleichnamige Schrift[1]

des deutschen Philosophen Odo Marquard, in der er den Zufall zugunsten der Absolutmachung des Menschen verteidigt, und für die Vielfalt eintritt.
Modulartig sind die zumeist mehrteiligen Zeichnungen und Spiegel an den freistehenden Säulen angebracht. Im hintersten Raum der Galerie kulminiert das Display-System in dem aus 100 Zeichnungen bestehenden Meteorit. Das Vertauschbare ist dabei ein wesentliches Element. Das Künstlerpaar arbeitet fortwährend an der Zeichnungsserie, die durch einen Arbeitsprozess, der sich zwischen Zufälligkeit und Konzeptualität bewegt, bestimmt wird. Die Idee der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Tafel und ihr freies Spiel damit, ist ein weiterer wichtiger Aspekt.

Als horizontale Antagonisten der aus Formrohren skizzierten Säulen zeigen PAYER GABRIEL in der Neuen Galerie Bohrkerne. In den unterschiedlichen Mustern, Farben und Strukturen finden sich erneut Wiederholung und Serialität.
Im Eingangsbereich sind vier Halbschalenseebohrkerne aus dem Mondsee in Salzburg (Leihgabe Prof. Michael Strasser, Institut für Geologie, Universität Innsbruck) platziert. Bohrkerne machen verschiedene geologische Phasen sichtbar. Darin werden Zeiten in Form von Schichten abgebildet und gewähren damit die Möglichkeit der Erstellung einer Chronologie für bestimmte Ereignisse. Bohrkerne ermöglichen damit einen Blick in die Vergangenheit und verweisen auf die Gerichtetheit der Zeit. Wir Menschen befinden uns sozusagen auf der obersten Schicht, der Oberfläche, die nur eine Durchgangsphase in der Geschichte der Erde darstellt.
Über den Halbschalenseebohrkernen hängt Doppelgänger #7, eine Granulatzeichnung aus zwei Teilen. Die Beschäftigung mit Resten, dem Übriggebliebenen oder Abfall spielt in der künstlerischen Auseinandersetzung der beiden Künstler_innen eine wichtige Rolle. Vom zeichnerischen Prozess übriggebliebene Spitzerreste werden gesammelt und aufbewahrt. In Referenz zu der zeichnerischen Auseinandersetzung fließen diese Reste dann in neue Arbeiten ein, die sich vom zeichnerischen Medium losgelöst als Schriftrelief-Collagen verstehen – wie Schatten mit Eigenleben.
Bohrkerne aus dem Erkundungsstollen des Brennerbasistunnels in Innsbruck (Leihgabe BBT SE) bilden in den zur Lagerung gängigen Holzkisten auf niedrigen Stahlsockeln platziert das installative Setting im ersten Raum. An den Wänden hängen 3 Zeichnungen aus der Serie Treibgut, basierend auf Modellaufnahmen unterschiedlicher Perspektiven und veränderlicher Stadien eines selbst hergestellten Berges aus Gelatine. Dieser Gelatineberg wiederrum ist jenen Eisbergen nachempfunden, die sich, aufgrund unterschiedlicher Ursachen aus dem Gleichgewicht gebracht, drehen und deren glasartige Unterseite an die Oberfläche tritt. Der Berg entstammt einer Atmosphäre eines unkontrollierten Modellierens. Er hat sich grundlos und absichtslos aus dem Alltag in die Erhabenheit (r)evolutioniert zu einem sehnsuchtsvollen, potentiell möglichen Landschaftsbild.

Für die gesamte Rauminstallation bilden „Elementarereignisse“ im weiteren Sinne die Sujets, die sich rasterartig, geordnet, rhythmisch akkumulieren. Zeichnungen und Objekte sind aufeinander bezogen, bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Zufälligkeit und Ordnung, Verdoppelungen, Verdichtungen, Spiegelungen und Schichtungen und öffnen vielfältige Assoziationsräume.



Cornelia Reinisch-Hofmann





[1] Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Reclam Verlag, Stuttgart, 1986



Dank an: Land Tirol, Bundeskanzleramt Österreich – Kunst und Kultur, Stadt Innsbruck
BBT SE
Köllensperger Stahlhandel GmbH & Co KG
Michael Gassebener – Schlossermeister
Prof. Michael Strasser, Institut für Geologie, Universität Innsbruck, Austrian Core Facility


[Quelle: www.kuenstlerschaftt.at, 19.09.2019]

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