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Yto Barrada. The Sample Book

Einladung: Yto Barrada. The Sample Book. 2016

08.09.2016 - 01.11.2016

Vereinigung Bildender KünstlerInnen, Wiener Secession, Wien / Österreich

In der Ausstellung The Sample Book zeigt Yto Barrada neue Arbeiten, die auf ihren letzten großen Werkzyklus Faux Guide aufbauen und ihre Auseinandersetzung mit Fossilienfunden in Marokko fortführen.

Der 2015 entstandene Essay-Film Faux Départ (False Start) nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise durch die Parallelwirtschaft aus paläontologischen Ausgrabungsstätten und „Dinosaurier-Tourismus“ zwischen dem Atlasgebirge und der Sahara, in einer Gegend, die einst ein Binnenmeer war. Die Fossilien zu Tage zu fördern, zu präparieren – und manchmal auch herzustellen – ist die Aufgabe von „Präparatoren“, die bei der Aufbereitung uralter Stücke und der Erschaffung handgearbeiteter pseudo-fossiler Souvenirs bemerkenswerte Geschicklichkeit und umfassende Kenntnisse beweisen....

Seit ihrer ersten großen Arbeit A Life Full of Holes: The Strait Project (1998–2004) ist Barrada an Schatten- und Parallelwirtschaften als Überlebensstrategien interessiert. In weiteren Werken widmete sie sich unter anderem Formen des „Widerstands“ wie Schmuggelei, der subversiven Aneignung öffentlicher Räume, Satire und Humor oder Magie. Barrada, deren Interesse oft den Lücken und Leerstellen gilt, richtet ihr Augenmerk weniger auf die Menschen selbst als vielmehr auf ihre Spuren. So sind es oft ‚Readymades‘, gefundene oder von anderen geringgeschätzte Alltagsgegenstände, die zu ikonischen Aufhängern ihrer komplexen Geschichten werden.

Wie Faux Guide besteht The Sample Book aus vielen einzelnen Werken, die an sich autonom funktionieren und doch größeren Zusammenhängen verpflichtet sind. Die durchaus heterogenen und auf den ersten Blick disparat erscheinenden Werke stehen inhaltlich über ein subtiles Referenzsystem miteinander in Beziehung. Sie erzählen Geschichten, die umso komplexer sind, je mehr die einzelnen Teile miteinander verknüpft oder verwoben werden – in Wahrheit erzählen sie eine Vielzahl von Geschichten, wahre und fiktive.

Bei ihren Recherchen zu marokkanischen Fossilien entdeckte Barrada in einem verschlafenen Naturkundemuseum eine von Hand gemalte lithologische Tabelle eines Geologen, die mittels nuancierter Farbabstufungen und unterschiedlicher Füllmuster geologische Zusammensetzungen wie auch das Alter von Erdschichten an einem bestimmten Ort anschaulich darstellt. Diese Tabelle vereint für Barrada eine Fülle von Themen, die auch in ihrer Arbeit aufeinandertreffen: Recherche, Forschung, Ästhetik und Pädagogik. Die Vermittlung von Wissen und mehr noch der Prozess des Lernens an sich gewinnt in ihrer Arbeit zunehmend an Bedeutung.

In Yto Barradas Schau in der Secession haben textile Arbeiten größeres Gewicht als in früheren Ausstellungen. Ausgehend von der besonderen ästhetischen Qualität der genannten lithologischen Tabelle übertrug die Künstlerin sowohl den Farbcode (Alter) als auch die grafischen Muster (Gesteinsarten) in Stickereien und natürlich gefärbte Stoffe. Die Farbnuancen der Tabelle finden sich zudem in Farbfotogrammen wieder, die ihrer bislang dokumentarischen fotografischen Praxis ein dezidiert malerisches Element hinzufügen. Am Educational Board (Lehrtafel, 2016) können die BesucherInnen mit kleinen farbigen Stoffmustern selbst Farbkombinationen ausprobieren und – sofern man die unterschiedlichen Farben wieder mit der Repräsentation von Erdzeitaltern in Verbindung bringt – spielerisch die Welt neu erfinden.

In mehreren Vitrinen sind die titelgebenden Musterbücher zu sehen: In den letzten Monaten eignete sich die Künstlerin umfassendes Wissen über natürliche Färbemittel und traditionelle Färbetechniken an. Ausgehend von der Idee, den Farbcode der lithologischen Tabelle in andere Medien wie Fotografie und Textilien zu übertragen, begann Barrada, Farben und Materialien wie Baumwolle, Seide, Wolle durchzudeklinieren. Das Ergebnis sind hunderte Stoffproben, die sie selbst wieder systematisch ordnete und in Musterbücher einklebte und archivierte. Zu sehen sind einige Beispielseiten, die wiederum bei der Gestaltung des zur Ausstellung erscheinenden Buches als Muster dienten.

Musterbücher, in denen kleine Warenmuster haptisch und visuell Zeugnis ihrer selbst ablegen, sind Relikte einer längst vergangenen Konsumgesellschaft und heute beinahe vollständig aus dem Warenkreislauf verschwunden. Am ehesten trifft man sie noch in der Heimtextilien-Branche an. Für Barrada sind alte Musterbücher nicht nur ästhetisch reizvolle Objekte, sie erzählen auch Geschichten von Herstellung und Vertrieb, von ökonomischen Strukturen und von Hierarchien zwischen ProduzentInnen und HändlerInnen.

In der Ausstellung finden sich eine Reihe gefundener oder aus Abfallprodukten hergestellter Objekte, die Zeugnis von Barradas Begeisterung für kleine und missachtete Dinge des Alltags ablegen: Nest und Indigo (beide 2016) sind anschauliche Beispiele für ihre Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge und Bedeutungen in den einfachsten Dingen zu entdecken. Mit einem Teppichstreifen umwickelte und bemalte Zweige und ein Gurkenglas gefüllt mit Kobalt, auf einfach zusammengenagelten Holzpodesten präsentiert, können als Symbole für Weben und Färben, für Kleidung als schützende Hülle und letztendlich als Verweise auf die Kulturgeschichte der Menschheit gelesen werden. In Nougat (2016) sind unterschiedlich eingefärbte Platten der (aus Zucker oder Honig, Nüssen und Eiweiß hergestellten) Süßigkeit in einer Museumsvitrine zu Türmen aufgebaut, eine weitere formale Anspielung auf Gesteinsformationen, museale Praxis und wissenschaftliche Visualisierungsmethoden.

Salon Marocain schließlich, eine vielfach vergrößerte Nachbildung der Holzbauklötze von Kindern aus Schaumstoff, lädt die BesucherInnen ein, selbst tätig zu werden und die Ausstellung mitzugestalten. Die Schaumstoffblöcke sind mit alten Einrichtungsstoffen aus Marokko bezogen und bilden eine Brücke zur Anfangsszene des Filmes Faux Départ (False Start) – einem Blick in den Marokkanischen Salon eines Hotels (und auf die darin ausgestellten Fossilien). Formal beginnt und endet die Ausstellung, die, wie alle Werke der Künstlerin, auch ein Porträt von und eine Meditation über Marokko ist, mit einem „Salon Marocain“.


[Quelle: www.secession.at]

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last modified at 29.11.2016


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