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Yves Netzhammer. Gesichtsüberwachungsschnecken

06.09.2017

Kunst im öffentlichen Raum Wien, KöR, Wien / Österreich
Öffentlicher Raum Wien, Wien / Österreich
Wiener Linien, Wien / Österreich

U1 Altes Landgut

In allen größeren Städten dieser Erde setzen sich jeweils morgens und abends Pendlerströme in Bewegung, die Tausende von Menschen zur Arbeit und dann wieder nach Hause bringen. Obwohl die Menschendichte zu Stoßzeiten hoch ist, ist die Distanz zwischen den Reisenden groß. Jeder scheint in einer eigenen Welt versunken, sei es in Gedanken bei der Arbeit, der Familie oder durch Smartphone und Kopfhörer von der Umwelt abgekapselt. Auch wenn die Blicke einander streifen, nehmen die Pendler einander kaum wahr.... Nur ganz selten schaut man jemandem direkt ins Gesicht und erkennt dann plötzlich und nur punktuell den Menschen in seinem Gegenüber.

Wie ungewohnt und aufrüttelnd ein direkter Augenkontakt in dieser täglichen Routine sein kann, zeigte der tschechische Künstler Jirí Kovanda (* 1953) mit seiner Aktion Untitled (On an escalator ... turning around, I look into the eyes of the person standing behind me …) im Jahr 1977. Wie der Titel sagt, bestand die Arbeit darin, dass sich der Künstler auf einer Rolltreppe – übrigens in einer U-Bahn-Station – plötzlich umdrehte und der Person, die hinter ihm stand, in die Augen schaute. Durch diese simple Geste durchbrach der Künstler die Anonymität und Distanz zwischen den Menschen und konfrontierte sein Gegenüber schonungslos mit sich selbst als Mensch und Individuum – ein starkes Zeichen, insbesondere in einer sozialistischen Gesellschaft wie jener Prags in den 1970er-Jahren.

Wir leben inzwischen in einer völlig anderen Gesellschaft, doch auch heute spielt „das ‚Lesen von Gesichtern‘ [...] eine zentrale Rolle in der sozialen Kommunikation“(1). Gesichter erzählen Geschichten, und Erlebnisse schreiben sich in das Gesicht ein. Das ist urmenschlich und wird immer so bleiben. Doch der Stellenwert des menschlichen Gesichts bzw. die Art und Weise, wie es gelesen wird, hat sich durch die algorithmisierten Gesichtserkennungsraster, wie sie von Social-Media-Netzwerken und Computerprogrammherstellern verwendet werden, grundlegend verändert. Solche Gesichtserkennungsprogramme sind heute weit verbreitet. Sie helfen zu Hause am Computer, Fotos bestimmten Personen aus unserem Umfeld zuzuordnen. An Flughäfen werden sie zur Grenzkontrolle eingesetzt, und auch im Militär spielen sie eine wichtige Rolle. Schon bald soll es Brillen geben, die unser jeweiliges Gegenüber mithilfe solcher Programme scannen und uns in Sekundenschnelle alles über diese Person verraten können – auch die privatesten Details.

Die Einteilung der Menschen aufgrund ihrer Gesichtsmerkmale ist nichts Neues. Über Jahrhunderte wurde versucht, aus dem physiologischen Äußeren des Körpers, besonders des Gesichts, auf den Charakter, das Temperament und die seelischen Eigenschaften eines Menschen zu schließen – immer wieder mit zweifelhaftem ideologischem Hintergrund.

Yves Netzhammers Arbeit Gesichtsüberwachungsschnecken für die U-Bahn-Station „Altes Landgut“ reflektiert die Geschichte der Physiognomik und Anthropometrie und verbindet diese mit aktuellen Fragen von Überwachung und Kontrolle. U-Bahn-Stationen sind Zonen des Transits, in denen große Menschenmengen zusammenkommen und die dementsprechend überwacht sind. Es sind aber auch Orte „der Begegnung mit Tausenden fremden Gesichtern“, wie Yves Netzhammer schreibt (2). Das gilt besonders für die U-Bahn-Station „Altes Landgut“, die in einem multikulturellen Quartier liegt. Die insgesamt 63 stilisierten Porträts an den Wänden der U-Bahn-Station sind eine spielerische Hommage an die Vielfalt dieser Menschen. Ausgehend von den Proportionen und Mustern einer Gesichtserkennungssoftware hat Yves Netzhammer verschiedenste Physiognomien gezeichnet und daraus „ein Panoptikum aus stilisierten Gesichtern, angesiedelt zwischen Tier und Mensch, zwischen Frau und Mann, Alt und Jung“(3) entstehen lassen. Es sind humorvolle Darstellungen mit vielen liebevollen Details. Wer genauer hinschaut, merkt, dass die Gesichter nicht einfach aus Punkten und Linien gezeichnet sind. Vielmehr werden Schnecken plötzlich zu Augenbrauen, eine kleine Tierherde formt sich zu einem menschlichen Gebiss, ein Tannenbaum wird zur Nasenfalte. Die Benutzer der U-Bahn-Station werden ihren Spaß daran haben, diese kleinen Feinheiten mit der Zeit zu entdecken.

Das Verhältnis von Mensch, Tier und Natur sowie die ständige Verwandlung der Elemente sind zentrale Bestandteile von Yves Netzhammers Schaffen. Die Arbeit Gesichtsüberwachungsschnecken führt die Auseinandersetzung mit diesen Fragen weiter, beschreitet auf dem Gebiet der Technik aber neue Wege: Die Zeichnungen wurden mittels Folienschablonentechnik und einem speziellen Interferenzlack (einem sogenannten Flip-Flop-Effektlack) auf den Metallplatten angebracht. Der Flip-Flop-Lack führt dazu, dass die Farbigkeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln anders wahrgenommen wird. Die „Piktogramme des Alltags“, wie Yves Netzhammer die Zeichnungen nennt, scheinen sich daher beim Vorbeifahren auf der Rolltreppe zu verändern – auch wenn sie fix angebracht sind. Das verstärkt die Idee eines großen Vexierbildes bzw. ständiger Verwandlung.

Text: Mirjam Varadinis

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(1) Yves Netzhammer in seiner Wettbewerbseingabe, S. 5.

(2) Ebd., S. 1.

(3) Ebd., S. 5.

[Quelle: www.koer.at]

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last modified at 02.10.2017


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