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curated by_vienna 2016, Meine Herkunft habe ich mir selbst ausgedacht

Programm: curated by_vienna 2016. 2016

09.09.2016 - 15.10.2016
Wien / Österreich

Meine Herkunft habe ich mir selbst ausgedacht

von Diedrich Diederichsen

Der klassische Anspruch der Avantgarden, die Traditionslinien zu kappen, beinhaltete nicht nur die Befreiung künstlerischer Praxis. Er veränderte auch die institutionelle Landschaft der Bildenden Kunst. Anstelle der traditionellen Fächer und Disziplinen, in deren Rahmen auch Lehre, Ausbildung und das Pflegen von Traditionslinien stattfand, sollten begründungsfähige Ansätze treten, die sich durch ihr Selbstverständnis und dessen Rationalität, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit legitimieren und durchsetzen sollten.... Doch hat die institutionelle Umwälzung im 20. Jahrhundert nicht im selben Tempo wie die künstlerische Entwicklung und oft auch überhaupt nicht stattgefunden. Stattdessen blieben Systeme wie das Prinzip der Meisterklasse in Kunstakademien bis zur Gegenwart erhalten, Personen, nicht Programme vermitteln und tradieren nach wie vor, während der Legitimationsdiskurs der Werke, ihrer Künstlerinnen und Vermittler solche Herleitungen meist hinter entweder immanenten oder politischen Beschreibungen verbirgt. Folglich wird der so verdrängte und unbewältigte persönliche und personenbezogene, gewissermaßen familiäre, ödipale, milieuspezifische Hintergrund künstlerischer Entwicklungen, Karrieren und Lebenswege in andere Kanäle umgeleitet: er zeigt sich in Hommagen, Referenzen und Reverenzen, Zitaten und Bezugnahmen.

Eine zweite, mit der ersten in Verbindung stehende Gemengelage ist die Tradition des Vatermordes, seltener auch des Muttermordes. Hier wird die Verbindung nicht geleugnet und der avantgardistischen Pflicht zur Erneuerung nicht mit begründungsfähigen Entscheidungen, sondern über den Bruch mit einer Meister- und Vaterfigur genüge getan. Die negative Fixierung auf eine zentrale Figur der älteren Generation sorgt dialektischerweise für beides: Bruch und Kontinuität. Sie verpflichtet die Jungen zur Erneuerung, aber sie verbindet dies mit einer Bezugnahme auf eine/n Ältere/n und damit auf Traditionslinien und Kontinuitätslinien überhaupt. Durch den dramatischen Bruch werden diese weniger geschwächt als vielmehr betont und am Ende gestärkt. In letzter Zeit häuften sich die Klagen, dass die jungen Leute ihre Väter nicht mehr morden wollen. Man sah das als ein Indiz der Schwächung vitaler Erneuerungskräfte der Kunst. Die Diagnose findet die Kinder zu gehorsam, zu vernünftig: die jungen Künstlerinnen und Künstler halten sich angeblich zu sehr an Programme und Vorgaben, an Normen und Übereinkünfte, sie wollen es richtig machen, statt wild zu sein.

Zwei Dinge dazu: zum einen ist natürlich die Idee der künstlerischen Wildheit und des ödipalen Ungehorsams selbst eine zutiefst fragwürdige; zum anderen ist es aber tatsächlich auffällig, dass die Kunstwelt und ihre Milieus voll sind von Kindern und Nachfahren berühmter Akteure. Man findet unter Künstlerinnen, Galeristen und Kuratorinnen dieser Tage eine Fülle von Leuten, die dasselbe machen oder im selben Milieu aktiv sind wie ihre Eltern. Das Gesetz, wonach wer im Kunstmilieu etwas auf sich hielt, sich früher immer unterscheiden wollte und musste von den eigenen Eltern, spielt keine Rolle mehr. Stattdessen sind die immensen ökonomischen und Statusvorteile, die im Milieu arrivierte Eltern mit sich bringen, von großem Vorteil für die Karrieren der Jungen. Selbst in Wien, das in dieser Hinsicht deutlich weniger feudalistisch organisiert ist, als etwa New York, hat eine Untersuchung der Akademie der bildenden Künste ergeben, dass von den erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerbern für einen Studienplatz im Kunststudium ungefähr ein Drittel Eltern oder andere nahe Verwandte hat, die im Milieu von Kunst und Architektur ihren Lebensunterhalt verdienen.

„Laïos antwortet nicht“, habe ich vor ungefähr einem Jahrzehnt einmal einen Text genannt, der sich mit der Vergeblichkeit ödipaler Routinen in jenen Kunstgattungen befasste, die gerne mit dem Begriff der Provokation erklärt werden. Wir sind nun ein Jahrzehnt weiter. Ödipus hat das kapiert, er sendet jetzt auch gar nicht mehr. An seine Stelle ist ein Charakter getreten, der seine Eltern vermisst, statt sich von ihnen trennen zu wollen. Nicht, weil sie ihm abhanden gekommen wären oder ihn verlassen hätten, sondern weil er für die vielfältigen Vermittlungen und Einbettungen von Begabungen und Fertigkeit, die ihm zugekommen waren, gar kein Elterninterface mehr hat. Was wir also seit einiger Zeit erleben, ist dass Künstlerinnen und Künstler sich Vorbilder suchen, die sie nicht mehr unbedingt persönlich gekannt haben oder die tatsächlich ihnen gegenüber als Lehrerinnen und Lehrer oder Elternfiguren aufgetreten sind, sondern die von der Generation her oft eher Großeltern hätten gewesen sein können und in deren Obhut als Traditionsbezug die nachfolgenden, jüngeren Künstlerinnen und Künstler sich freiwillig begeben. Sie suchen oder erfinden einen Adoptiv-Großvater oder eine Adoptiv-Großmutter, der oder die nicht nur das Paradox liefert, genau den Familienbezug, die Herkunft, mithin das klassisch Unverfügbare an einem Lebenslauf verfügbar zu machen, sondern darüber hinaus aus einer Epoche stammt, als das Künstlertum als solches weniger kompromittiert gewesen zu sein scheint, als es das heute ist – oder anders gesagt: heroischer.

Den Versuch, die eigene Absicht der Erneuerung über die Anrufung einer unter anderen Bedingungen zustande gekommenen Radikalität abzusichern, lässt sich vielleicht aber auch verteidigen. Schließlich gibt es überhaupt kein auf Historie und geschichtliche Entwicklung bezogenes Handeln, auch in den Künsten, das nicht zur Richtung des Zeitpfeils und Fluchtpunkten auf ihrer Achse Bezug nimmt. Die überlieferten simplen Positionsbestimmungen als entweder der Vergangenheit verpflichtet oder auf die Zukunft ausgerichtet, sind zu Recht als naiv erkannt worden – und vor allem als politisch zweifelhaft: solange man nicht sagt, auf welche gesellschaftliche Zukunft und welche Traditionslinie man sich bezieht, sind sie auch nahezu leer. Aus dieser Niederlage von Futurismus und Traditionalismus auf ein Aussteigen aus geschichtsphilosophischen Fragen zu schließen, ist aber auch nicht legitim. Schließlich stammen unsere Gegenargumente gegen falsche Geschichtsphilosophie aus einer virtuell besseren. Der Trick mit der scheinbar passivistischen Unterwerfung unter einen Zweig des Vergangenen, den ich mir aber selbst ausgedacht oder zumindest aufbereitet habe und der den für jede Entscheidung notwendigen Anteil des Unverfügbaren in gewisser Weise unter meine Kontrolle stellt, stellt eine Erweiterung künstlerischer Handlungsmöglichkeiten dar. Diese neuen Handlungsmöglichkeiten vermischen sich mit genau den Praktiken, die normalerweise oder traditionellerweise von Kuratorinnen und Kuratoren übernommen wurden: zu entscheiden, wer von den Früheren heute wieder entdeckt werden müsste.

Zugleich kann man diese Erweiterung im Hinblick auf ein Verfügen über Unverfügbares, ein Erfinden dessen, was einem normalerweise zugeteilt wird und das notwendig als schicksalhaft gedacht werden muss, um überhaupt eine Auflehnung dagegen als heroisches oder radikales Programm denkbar zu machen, als Erweiterung der doch längst als fragwürdig erkannten Selbsterfindungsimperative der so genannten Postmoderne erkennen: ein nun noch um die Geschichte und Vorgeschichte erweitertes individualistisch-narzisstisches Programm für Kinder des westlichen Kleinbürgertums. Die Idee, das Unverfügbare verfügbar zu machen, hat ja einen kolonial-erobernden Zug, der nur dadurch zu brechen wäre, dass dies erstens nicht gelingen kann oder zweitens der Grund für die Adoption von Großeltern sich nicht nur biographienotwendig, sondern eben auch historisch uns politisch aus der aktuellen Lage ergibt.

Vielleicht ist es deswegen ja so, dass es zu der adoptierten Großmutter, dem aus obskuren, aber radikalen Winkeln der Kunstgeschichte hervorgezogenen Großvater noch eine andere Alternative gibt: die Thematisierung der tatsächlichen eigenen Herkunft. Dies gilt vor allem dort, wo künstlerische Positionen sich eben nicht aus der ödipalen Logik westlicher und marktorientierter Generationenfolgen mit Elternmorden und Ablösungen ergeben, sondern aus minoritären und marginalisierten Geschichten, die von außen auf die Burgen und Paläste einer Kunstwelt schauen, in deren Inneren die Diadochenkämpfe toben. Natürlich gibt es auch hier einen mittlerweile gut bekannten Mechanismus, der tendenziell zu einer Konvergenz der beiden Strategien führt: ob meine Geschichte nun von einer externen Position beginnt oder von einer internen: in jedem Falle besorge ich mir einen radikalen Großvater, eine unerschrockene Großmutter, ob nun nur auf dem Wege ideeller Verwandtschaft oder über eine zwar biologische Verwandtschaft, die im Ergebnis aber auch vor allem ideell wirksam wird.

Eine letzte Alternative zu diesen Strategien finden wir in der schon lange in den Musik- und Literaturmilieus, in letzter Zeit aber auch in der Bildenden Kunst häufiger diskutierten Position des Afrofuturismus: hier wird der (künstlerische) Ausgangspunkt afrikanischer und afrodiasporischer Künstlerinnen und Künstler nicht von einem gemeinsamen Ursprung vor der Verstreuung aus gedacht, sondern in Vorläuferschaft zu einem zukünftigen historischen Zusammenhang. Anders als der traditionelle Futurismus knüpft dieser nicht an einer konkreten technologischen, politischen oder geschichtsphilosophischen Narration an, sondern ergibt sich nur aus einer Umkehrung der Diasporaerzählung: aus der Verstreutheit, die im Verhältnis zu einem gemeinsamen mythischen Ursprung chaotisch erscheint und in der die Einzelnen verloren sind, wird eine Verstreutheit im Verhältnis zu einer phantastischen Zukunft, die die Verbindung der Einzelnen ganz anders organisieren wird – und deren Elemente womöglich schon in der Gegenwart zu finden sind. Das sind dann keine familiären Genealogien mehr, noch deren Umkehrung oder Erweiterung, sondern liefe auch auf einen Abschied davon hinaus, aktuelle künstlerische Position immer nur als Konkretion aus ermittelten, erfunden oder authentischen Vorläuferschaften zu lesen, sondern sie stattdessen als authentische Vorläuferschaften ganz anderer, etwa kollektiver Organisationsformen zu verstehen.

[Quelle: wirtschaftsagentur.at]

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last modified at 09.01.2017


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