Salzburger Nachrichten am 15. März 2003 - Bereich: kultur
Das Werk als Lebensfries

Mit einer gewichtigen Eröffnungsschau über den Expressionisten Edvard Munch signalisiert die neue Albertina ihr verändertes Profil.

GÜNTHER FROHMANN

"Ich male nicht, was ich sehe, sondern was ich sah" - dieses persönliche Bekennntis zu einer Kunst der inneren Sicht, der subjektiven Erinnerung charakterisiert das Gesamtwerk des wohl bedeutendsten nordischen Malers und Grafikers Edvard Munch (1863-1944). Ihm widmet die soeben eröffnete neue Albertina ihre erste Ausstellung in einer der Ausstellungshallen im Albertinapalais. Die Munch-Retrospektive ist die bisher größte außerhalb Norwegens, sie vereint 60 Gemälde sowie 140 Arbeiten auf Papier aus rund 30 internationalen Sammlungen, vor allem aus dem Munch-Museum Oslo.

Lebenserfahrungen und Künstlerbekanntschaften

Angst, Melancholie, Liebe, Eifersucht, Tod und Trauer sind die Themen Munchs, der persönlich früh von deprimierenden Ereignissen wie dem frühen Tod sowohl seiner Mutter als auch seiner Lieblingsschwester und der zunehmenden Flucht des Vaters in eine übersteigerte Religiosität geprägt wurde. Ebenfalls sehr früh entschied sich Munch für den Weg als Maler. Er begegnete zwischen 1889 und 1892 in Paris Van Gogh, Gauguin, Seurat und Toulouse-Lautrec, geriet in den Bannkeis der Symbolisten und entfachte 1892 im Verein bildener Künstler in Berlin mit seinen Gemälden einen veritablen Kunstskandal, der ihn berühmt machte. In den frühen neunziger Jahren war sein persönlicher Stil voll ausgereift. Dieser Stil ist von Farbflä-chen gekennzeichnet, die Munch "Kristallisation" nannte.

"Thema und Variation" ist das Motto der Ausstellungskuratorin Antonia Hoerschelmann, die damit das zyklische Schaffensprinzip betont. Munch variierte ein gefundenes Sujet, ein Bildthema sowohl in der Komposition als auch bezüglich des Mediums. Mit dem Namen des Künstlers heute untrennbar verbundene Werke wie die zugleich klassischideal als auch lasziv wirkende "Madonna" werden als Ölgemälde, Zeichnung, Pastell, Holzschnitt oder Farblithografie abgewandelt, wobei im Werkprozess die Grafik nicht unbedingt der Malerei vorangehen muss.

Diese Vielfalt dokumentiert die Schau an Hand von 23 Themenkreisen, nachempfunden einem von Munch selbst als "Lebensfries" bezeichneten, sich über Jahrzehnte erstreckenden Werkzyklus, zu dem der Künstler 1889 schrieb: "Es müssen lebende Menschen sein, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Ich werde eine Reihe solcher Bilder malen, neu ist dabei, das Heilige in ihnen zu verstehen."

"Der Kuss", "Anziehung", "Loslösung", "Eifersucht", "Angst", "Am Totenbett" oder "Landschaft" nennen sich diese Kreise, die alles beinhalten, wofür das Werk von Munch steht: das Gefühl der Einsamkeit und der Verlassenheit, die Angst erzeugende Leere, das psychologisch gedeutete Menschenbild. Dazu kommt die symbolträchtige Wahl der Farben, die zu Bildern wie Klangfarben führen.

Ausdruck für seelische Extremsituationen

Zu diesem "Lebensfries", der auch dunkel glühende Landschaften und zahlreiche Porträts umfasst, gehören grandiose "Ikonen" der Malerei und Druckgrafik wie der legendäre "Schrei" mit seinen stürzenden Linien - "ich fühlte einen großen Schrei durch die Natur", so Munch - , "der Abend auf der Karl Johans Gate" mit den maskenhaften, starren Gesichtern oder den "Mädchen auf dem Pier" mit den sogartigen Verzerrungen der Perspektive. Die Schau dokumentiert auch die absolute Gleichwertigkeit von Malerei und Druckgrafik im Werk Munchs, der insbesondere die Holzschnitttechnik bereicherte. Dabei kommt es zur Verschmelzung von Figur und Grund.

Diese Retrospektive signalisiert zugleich auch das neue, von Direktor Schröder angestrebte Profil der Albertina. Vor allem Gemälde sind der Blickfang, angestrebt wird die Monumentalität, die Ausstellungssensation. Knapp ein Zehntel der Ausstellung wird mit Exponaten aus dem Albertinabestand bestritten, das Museum Albertina wird wie ein vergrößertes Kunstforum geführt, macht anderen Museen Konkurrenz. Diffizile, kostbare Grafik steht nicht mehr im Mittelpunkt.