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24.09.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Der andere andere Blick
VON SABINE B. VOGEL
Biennale Istanbul. Das System Kunstbiennale grassiert weltweit, am Bosporus ging das Netzwerk-Konzept auf.

F
ür zeitgenössische Kunst galt Istan bul bisher nicht gerade als heißes Pflaster. Doch scheint das offizielle wie auch bürgerlich-private Interesse an diesem durchaus imageträchtigen Gebiet zu wachsen. So wurde im Sommer mit "Istanbul Modern" ein eigenes Museum für aktuelle Kunst eröffnet, für die erste Ausstellung holte man sich sogar Rosa Martinez, eine der zwei Chefinnen der noch bis November laufenden Biennale Venedig.

Eine Biennale wird seit 18 Jahren auch in Istanbul veranstaltet. Wobei zuletzt kritisiert wurde, dass sich diese zu weit von der Stadt entfernt hätte und austauschbar geworden wäre. "Istanbul" nennen die Kuratoren - der Brite Charles Esche (Direktor des Van Abbemuseum, Eindhoven) und Vasif Kortun, der einen Ausstellungsraum in Istanbul leitet - dementsprechend programmatisch auch die heurige Ausgabe.

Wurde mit der ersten Biennale 1987 die Losung "zeitgenössische Kunst in historischen Orten" ausgegeben, nutzen die Kuratoren Esche und Kortun dieses Jahr allerdings erstmals weder Moscheen noch die berühmte Zisterne. Schauplatz ist wie gewohnt der zentrale Stadtteil Beyoglu nördlich vom Goldenen Horn, jenes von alters her westlich geprägte Geschäftsviertel, das seit kurzem Zentrum einer rasanten baulichen Erneuerung ("gentrification") ist. Doch führt uns die Biennale jetzt auf eine Tour durch sieben Wohn- und Lagerhäuser, gerade frisch oder zum Teil gar nicht hergerichtet - und damit dem Zustand des Stadtviertels entsprechend.

Mehr als die Hälfte der rund 50 teilnehmenden Künstler war eingeladen, mehrere Wochen in Istanbul zu leben und ortsspezifische Arbeiten zu entwickeln. So hoffen die Kuratoren, einen anderen Blick auf die Megastadt bieten zu können - was ziemlich hoch gegriffen ist. "Anders" ist schließlich jeder Blick, selbst der durch Reiseführer geleitete. Können sich also durch die Biennale-Werke tatsächlich neue Perspektiven auf die Stadt eröffnen?

Mitten in der Halle des Lagerhauses "Antrepo No. 5", dem zentralen Ausstellungsort, steht die große Installation des in Berlin lebenden Erik Göngrich: eine prismatische Holzkonstruktion, dazu eine Zeichnung und fotografische Momentaufnahmen von Istanbul. Die Hügellage, die vielen Treppen, die engen Gassen, das Ausufernde - Göngrich gibt hier den vielseitigen Eindrücken der Stadt eine enorm verdichtete Form. Auf die vielen Treppen im Stadtbild richtet auch der einzige österreichische Künstler, Karl-Heinz Klopf, die Aufmerksamkeit. Ein Scheinwerferkegel erleuchtet einige Stufen, die während der drei Eröffnungstage von Musikern als Bühne belebt wurden. Ähnlich entschied auch die in Helsinki lebende Pilvi Takala, unseren Blick auf Sichtbares zu lenken, und konzentriert sich auf ein Detail des türkischen Gesellschaftslebens, auf die Kaffeehäuser: Sie bittet zwei Männer, ihre Stammlokale zu tauschen, und interviewt sie zu der unerwarteten Veränderung - und spielt in einer kleinen Damenrunde selbst mit dieser Männerdomäne.

Alltägliche Beobachtungen als Ausgangsmaterial wählte auch der Italiener Mario Rizzi. In seinem 80minütigen Film "Murat und Ismail" entwirft er in den Dialogen zwischen einem Schuhhändler und seinem erwachsenen Sohn ein überzeugendes Portrait Istanbuls, der sich wandelnden Berufsbilder, der Generationenkonflikte und der rasanten Veränderungen gesellschaftlicher Werte und Ziele. Auf Detailbeobachtungen basieren die humorvollen bis bissigen Comic-Szenen von Dan Perjovschi, die der Rumäne direkt auf die Wände zeichnet: Gezielte politische Themen wie die Frage nach dem türkischen EU-Beitritt greift er dabei auf, Touristen-Rituale wie die Hetze zum Bazar und viele kleine, spitze Vorurteile, bei denen sich jeder angesprochen fühlt.

All diese Werke geben die Möglichkeit, in eine nachdenkliche Distanz zur sinnlichen Überwältigung der Bosporus-Metropole zu treten. Istanbul, das ist den Kuratoren gelungen, funktioniert in dieser neunten Biennale sowohl als Ausgangs- als auch als Bezugspunkt. Das Konzept geht also auf: Es eröffnen sich neue Perspektiven auf die Stadt. Aber nicht in den einzelnen Werken - das wäre zu viel erwartet -, sondern in der Gesamtheit, in der Ortsspezifik, im Dazwischen auf den Wegen zu den Veranstaltungsorten, in all den Gesprächen einer internationalen Fangemeinde mit den hier ansässigen Künstlern. Darin liegt das Potenzial des immer aggressiver expandierenden Systems "Kunstbiennale", das bisher in über 120 Städten Fuß gefasst hat. Die jüngste Neugründung ist übrigens die "Singapore Biennale", Premiere ist nächstes Jahr.

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