Martha Rosler flanierte durch Kassel und fotografierte begeistert die zahlreichen Maulwurfshügel in öffentlichen Gartenanlagen. "Passionate Signals" heißt die Arbeit der New Yorker Künstlerin, die auf die verdrängte Geschichte Kassels aufmerksam machen soll - auf die Dominanz in der Rüstungsproduktion in der Nazizeit und heute. Rosler hat sich "zur Fantasie hinreißen lassen, hier breche das lokale Unbewusste hervor...", schreibt Co-Kuratorin Ruth Noack im documenta-Katalog.
Die wilde Natur der Industrie-Stadt Kassel ist immer wieder Thema. Dieses Jahr gibt es leider kein Hochwasser und man kann daher nicht mit einem Schiff von einem Ausstellungsort zum anderen fahren. Heuer vertrockneten die angelegten Reisfelder von Sakarin Krue-On im Bergpark Wilhelmshöhe, der Türen-Turm von Ai Weiwei stürzte durch Unwetter ein und Regenwasser drang in den flachen Aue-Pavillon.
Geklaute Erfindungen
Heute knallt die Sonne auf den Pavillon und die Kunstinteressierten müssen so viel Kleidungsstücke wie möglich in der Garderobe abgeben. Konzentriert und mit ernsten Gesichtern studieren BesucherInnen die gelben Zettel auf einer Installation von Ines Doujak. "Siegesgärten 2007" nennt sich das Beet auf Stelzen, in dem mit Hilfe von 69 Samentüten die globalisierte kapitalistische Welt beschrieben wird. "Äthiopische WissenschafterInnen entdeckten, dass die Seifenbeere (Enod) effektiv zur Behandlung von Bilharziose, eine durch Süßwasserschnecken übertragene tödliche Krankheit, sein kann", steht auf einem Schildchen zwischen grünen Pflänzchen. Mehr als 200 Millionen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind mit Bilharziose infiziert.
Bereits 1964 fand der äthiopische Biologe Aklilu Lemma heraus, dass aus dem Extrakt der Pflanze ein bezahlbares Mittel zur Heilung hergestellt werden könnte. Doch die WHO verlangte weitere Untersuchungen. "Die Universität von Toledo beantragte und erhielt über die US-Patente 5.252.330 und 5.334.386 den Zugang über Enod, um Zebramuscheln zu töten, die in US-Seen eine Gefahr für die Trinkwasserversorgung darstellen." Die ÄthiopierInnen hatten keine Chance mehr, über ihre eigene Entdeckung zu verfügen: "Als äthiopische ForscherInnen um Zugang baten, setzte die Universität sie in Kenntnis, dass diese Patente zu einer Lizenzgebühr von 50.000 Dollar erhältlich seien oder um 125.000 Dollar für den kompletten Erwerb." Und so geht es dahin.
Ines Doujak stellt mit ihren künstlerisch gestalteten Samentüten geklaute Erfindungen ohne Grenzen dar. Die durchschnittliche Verweildauer vor diesem Gesamt-Kunstwerk beträgt eine Viertel Stunde. "Unsere" Ines Doujak muss Monate mit den Recherchen verbracht haben...
Raumgreifende Stahlrohre
Im edlen Schlösschen, dem Fridericianum, kann man an Samstagen klaustrophobisch werden, denn die Leute drängen dicht auf dicht. Das einzige Kunstwerk, das Raum und Weite erzeugt, ist die Installation von Iole de Freitas aus Rio de Janeiro. Riesige Stahlrohre schlängeln sich in vielen Windungen quer durch den Saal mit den hellgrünen Wänden und laden zum Durchklettern ein. Durchsichtiges und durchscheinendes Polycarbonat hängt auf Edelstahl. Die Künstlerin durchbricht die Wand und setzt ihr Kunstwerk draußen an der Fassade fort.
Seitlich im Saal hängt ein dunkelgelbes Relief aus Stahlblech von Charlotte Posenske. In der Nähe stehen auf einem Podest kleine Panzer aus Brotteig, die nach ihrer Frittierung Schildkröten ähneln. "Add Oil and March Forward!", heißen die sieben Objekte von Zheng Guogu. Die junge Museumswächterin hat alle Hände voll zu tun, die versammelte Kunst vor Kindern und Erwachsenen zu schützen. "Berühren verboten", schallt es oftmals lautstark durch die Halle.
Lovely feminist
Eine spiralförmige Treppe hinauf, hängen ganz oben im dritten Stock seitlich über sechzig ZuschauerInnen gebannt in Sesseln fest. Auf der anderen Seite der Treppenöffnung ist Hito Steyerls Film "Lovely Andrea" zu sehen. In gewohnt souveräner Manier erzählt die Berliner Filmemacherin diesmal vom Bondage, das in Japan Teil der Pornoindustrie ist. Hito begibt sich auf die Suche nach einem Bondage-Foto von sich selbst, das 1987 entstand. Seilbondage wurde "hojojutsu" genannt, und bedeutete die Kunst, einen Kriminellen mit einem Seil zu fangen, zu transportieren oder zu foltern. "Bondage is art", lacht ein japanischer Geschäftsmann in die Kamera. "When flying in the air, I really feel free", behauptet eine junge Darstellerin.
Zwischen ihre Recherche- und Interviewteile montiert Hito Steyerl Bilder von Spiderman, wie er die Freiheitsstatue herunter rutscht, und von den Gefangenen von Guantanamo, aber auch die Homepage einer Bondage-Darstellerin, die sich als Spiderwoman inszeniert. "Das japanische Sadomaso basiert auf dem Gefühl der Scham", erklärt ein "ropemaster" auf die Frage, ob er selbst schon einmal gefesselt wurde. "Der Herausgeber von einem Bondage-Magazin muss des Models Schmerz kennen." Steyerl bearbeitet in "Lovely Andrea" professionelle Inszenierungen und ambivalente Gefühle in Sachen Lust und Liebe. Die "Erotik der Dominanz" ist schließlich ein beliebtes und gefährliches Modell in unserer Gesellschaft. "But you consider yourself a feminist?", wird Hito im Film gefragt. "Yes, definitly."
Anti-Pathologische Bilder
Diese documenta macht Geschichte, denn noch nie waren so viele Frauen vertreten. 43 Prozent der ausgestellten Kunst sind von Künstlerinnen erdacht und erarbeitet. Zum Vergleich: Die allererste documenta hatte nur 4,1 Prozent Frauen, die zweite documenta 2,85 Prozent und sogar die politische d 11 stellte nur zu 33 Prozent Kunst von Frauen aus. Interessant ist auch die Verteilung: Während viele der ausgestellten, historischen Kunstwerke von "Webern" und "Künstlern" erstellt wurden, sind besonders die neuen Werke aus 2007 von Künstlerinnen.
Ein Foto von einer älteren Frau neben Strommasten. Zu sehen ist nur ein Teil ihres Oberschenkels von hinten. 1992 starb die US-Künstlerin Jo Spence, die ihre Krebs-Krankheit immer wieder in Ausstellungen thematisierte. Spence wehrte sich gegen das "Minenfeld des Schweigens" und die Entmachtung des kranken Individuums, das "meilenweit vom autonomen Subjekt entfernt ist, dieser Chimäre des Abendlandes", schreibt Ruth Noack im Katalog. "Spence zog mutig gegen die Pathologien zu Feld, die durch die in der Kultur vorherrschenden Bilder reproduziert werden." Am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe hängt noch so ein anti-pathologisches Bild. Allan Sekula zeigt ein riesiges Plakat, auf dem ein dunkelhäutiger Arbeiter zu sehen ist, der direkt in die Kamera schaut. "Alle Menschen werden Schwestern", steht darauf. Brüder sind wir ja schon.