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Kunstberichte

Alle Chinesen stricken jetzt

"Schön" – und das war’s auch schon. Ja, Leo Zogmayer ist halt ein Asket. Moment: Seh’ ich da nicht Brad Pitt? Und da hinten: Das ist eindeutig ein Punschkrapferl, der Inbegriff der Anmut. Galerie Hilger

Von Claudia Aigner

Ja, ich hab’ sie gesehen, die eine Milliarde Chinesen. Es war wie eine Live-Schaltung in die Volksrepublik China. Die komplette chinesische Bevölkerung nähte da Pullover, Hosen und Anoraks stur vor sich hin und alle hatten sie den Fuß auf dem Gaspedal ihrer Nähmaschinen. Die funktionierten wie dieses Wunderkochgeschirr aus dem Märchen, das man mit dem Befehl "Töpfchen, koch!" einschaltet und das dann gar nicht mehr aufhört, sich genau ans einzige Rezept, das es kennt, zu halten, bis es den halberten Globus mit seinem Hirsebrei vermurt hat.

Hilger Contemporary: Im Land des Nähens

In China, wo nicht nur ein mickriges Töpfchen herumsteht, sondern eine Milliarde Nähmaschinen, hat eben jemand unvorsichtigerweise in die Nähstube hineingerufen: "Nähmaschine, näh!" Und dann ist er auf Urlaub gegangen und hat sein Wissen um das Zauberwort, wie man die Nähmonster wieder abstellt, mitgenommen in die Karibik. Und die Chinesen ziehen in ihrer Not ihre gesamte Herbst-Winter-Kollektion jedem EU-Bürger fünfmal, nein 33-mal übereinander an. Und die Kleider werden mit jeder Schicht billiger. Und die armen Europäer, der Mode wehrlos ausgeliefert wie Schaufensterpuppen, sah ich schwitzen, die dick eingewickelten Textilmumien. Und dann fielen sie reihenweise um. Hitze-Erschöpfung. Erderwärmung auf chinesisch.

Und irgendwann schwangen sich die Chinesen walkürenhaft auf ihre Nähmaschinen und fuhren, "Hojotoho!" grölend, von dannen. Eventuell waren’s doch keine Nähmaschinen, sondern Fahrräder. Und die gingen sämtliche Chinesen jetzt gegen Autos umtauschen. Weil sie sich nicht mehr länger von der aktiven Teilnahme am Klimawandel ausschließen lassen wollten.

Genaugenommen steht auf dem Gemälde, das mir das alles offenbarte, bloß das markante, aber 9,6 Millionen Quadratkilometer umfassende Wort "China". Denn Leo Zogmayer ist ein begnadeter – Ikonoklast. Er überlässt fast alles der Fantasie des Betrachters. Und die blüht bekanntlich wie eine Filiale von "Bellaflora". Ein anderes monochromes Hinterglasbild stellt die Behauptung auf: "schön". Du sollst dir kein Bildnis machen von der Schönheit (und kein Pin-up aufhängen oder womöglich in den Spiegel schauen).

Tja, und die telefonische Zeitansage, deren Job es ist, die Uhrzeit exakt prophetisch vorauszusagen, ist auch nicht mehr ganz das, was sie einmal war: "Mit dem Summerton wird es: jetzt – summ." Na ja, immerhin eine genauere Prognose als die Wettervorhersage. Aber wie lang dauert denn ein Jetzt (oder diese ominöse Zeiteinheit namens Gegenwart)? Und wann beginnt endlich das nächste Jetzt? Aus wie vielen Jetzts besteht ein Tag? Lässt sich ein Augenblick in Momente unterteilen oder gibt es gar Hundertstelaugenblicke?

Und schon wieder ist es heute, jeden Tag das gleiche

Und die ultimative Frage: Tritt der Tod genau dann ein, wenn wir unsere Zukunft zur Gänze aufgebraucht haben (und gewährt man auch den Atheisten einen unbegrenzten Überziehungsrahmen, eine Ewigkeit nach dem Exitus)?

Nein, so einen Telefondienst, der einem mitteilt, dass es immer dann jetzt ist, wenn es piept oder summt, betreibt der Zogmayer doch noch nicht bei sich daheim. Aber er hat eine vergleichbar philosophische, kongenial geniale Armbanduhr. Auf dem Zifferblatt: der Schriftzug "jetzt". Und jetzt ist immer aktuell. Ach, und dem Zeitmessgerät hat er wohl die Zeiger ausgerissen wie einem Insekt die dürren Beinchen, damit die Zeit nicht mehr davonrennen kann? Nein, die sind noch dran. Der Zogmayer ist ja ein gemäßigter Bilderstürmer. Kein Fundamentalist. (Und was ist ein Zifferblatt anderes als der Versuch, das abstrakte, unbegreifliche Phänomen Zeit zu visualisieren?)

Ob es was zu bedeuten hat, dass sich die Zeiger keine Vitalfunktionen anmerken lassen? Und dass die zwei Uhren in der Vitrine keinen Puls haben, nicht ticken? Zogmayer: "Es gibt Leit, die bringen jede Uhr um. Spätestens am nächsten Tag bleibt sie stehen." Wie wahr. Diese Uhrenmörder, die hängen ihre Wanduhr "versehentlich" so lange an einem imaginären Nagel auf, bis sie auf dem Boden zerschellt. Oder die Swatch erliegt einem Schleudertrauma, nachdem sie sich beim Einräumen der Wäsche in die Waschmaschine "rein zufällig" vom Handgelenk gelöst hat.

Eine Ausstellung, die das Hirn belohnt, wenn es bereit ist, sich einzuschalten. Besonders geeignet für Intellektuelle und Kunsttheoretiker. Der Zogmayer geht ja nicht so plakativ und durchschaubar vor wie die Hobby-Ikonophobiker, die panische Angst vor Bildern haben. Die Briefmarkenabstinenzler etwa, die das Porto den Empfänger zahlen lassen. Weil sie sich nicht an der Bebilderung der Welt beteiligen wollen. Oder die Bankräuber. Die ziehen sich Skihauben übers Antlitz. Es gibt ja schon genug Gesichter auf Erden (und Fahndungsfotos).

Galerie Marschalek: Wenn Würmer kuscheln

Manches in dieser eigentümlich gemischten Gruppenausstellung mag einem ein bisserl peinlich sein oder zu wenig künstlerisch (zu "angewandt"). Oder zu esoterisch. Die Stücke von Zweien absorbieren den Besucher aber sowieso mit Haut und Haar. Renate Korineks sinnlich schwabbelige Engerlinge (das ist meine zoologische Einordnung) beim Kuscheln und beim Liebesspiel. Aus mundgeblasenem Glas.

Und Daniel Bucurs raffinierte, staunenswerte Holzskulpturen. Der brächte es glatt fertig, sich mit Essstäbchen die Schuhe zuzubinden. Das kann ein Japaner zur Not auch, nicht mit bloßen Fingern, sondern mit Essbesteck eine Masche ins Bandel machen? Aber kann der ein Stäbchen auch wie ein Schuhband einfädeln , ohne es zu zerbrechen? Gut, das sind Vorschusslorbeeren. Das hat der Bucur noch nicht bewiesen.

Freitag, 16. September 2005


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