Heute sind Fotos allgegenwärtig und prägen unsere Wahrnehmung wie nie zuvor. Die mediale Bilderflut hat die Frage nach der fotografischen Wirklichkeitsnähe längst überholt. "Vom Dokument zur Fiktion" ist das Motto des diesjährigen "Monats der Fotografie" in Paris, wo die Veranstaltung erfunden wurde und seit nunmehr 20 Jahren besteht - heuer erstmals im Austausch mit Wien und Berlin. Die französische Metropole gliedert ihre Ausstellungen im Louvre, im Centre Pompidou und anderen Großinstitutionen in drei Themenbereiche: Der historische Teil ist eine Nomenklatur der Fotogeschichte. Der zweite Teil zeigt die Perspektiven des vorigen Jahrhunderts, und der dritte führt in die Gegenwart. Subjektive Interpretationen bedienen sich oft poetischer und fiktionaler Methoden.
Wien hat auf eine thematische Orientierung verzichtet - wohl vordergründig aus Zeitmangel. "Im Herbst 2003 kam aus Paris die Einladung, mit Berlin auch in Wien eine derartige Veranstaltung durchzuführen. Wir standen vor der Entscheidung, entweder pragmatisch auf das Angebot einzugehen oder das Projekt wegen der geringen Vorlaufzeit auf 2006 zu verschieben", begründet Bernhard Denscher, Projektkoodinator und Leiter der Kulturabteilung der Stadt Wien, die Vorgangsweise. Man schrieb daher an mit dem Medium Foto befasste Galerien, Kulturinstitutionen und Künstlervertretungen. Wer sich bis zur Deadline meldete, wurde aufgenommen.
Das Resultat ist bemerkenswert: 50 Ausstellungen und Veranstaltungen - von Valie Export und Eva Schlegel über historische Fotos zur Wiener Weltausstellung und ungarische Fotografie aus aller Welt bis zu Porträts, der STANDARD-Ausstellung "16 Jahre Zeitgeschehen" und Workshops zur Fotografie zwischen Technik und Kunst.
Den Auftakt bilden Henri Cartier-Bresson und Willy Römer heute Abend im Wien Museum. Im Gegensatz zu Berlin, wo der November, der "europäische Monat der Fotografie", mit der Eröffnung des Nachlasses des gebürtigen Berliners Helmut Newton im Fotomuseum "den Charakter einer Feier annimmt, verstehen wir hier die Teilnahme als Push für das Medium", erklärt Ko-Koordinator Roland Fink. Denn "die Fotografie wurde hier bisher stiefmütterlich behandelt".
Es gibt in Wien kein Fotomuseum. Einzig die Galerien Westlicht und Faber sowie das WUK machen die Fotografie zum Programm. Warum? Kunsthistoriker Fink sieht eine "starke Identifikation" mit Walter Benjamin, demzufolge ein Foto nie die ganze Wahrheit zeigt. So zeigen die ersten "Pressefotos" aus dem Krimkrieg (1853-56) aufgrund langer Belichtungszeiten nicht etwa Soldaten im Schlachtfeld, sondern die Generäle, die wie erstarrt fürs Foto posierten.
Ebenso könne heute ein Foto von einem Unfall nur einen Ausschnitt, wohl aber kaum die Unfallursache zeigen. Fotos seien immer aus dem Zusammenhang gerissen, so das hiesige Credo.
Kombiniert mit einem "eher althergebrachten Kunstverständnis" nehme die
Fotografie in Wien "im Vergleich zur Malerei den zweiten Platz ein". Nicht zu
vergessen die "fehlenden wirklichen Größen". Im Unterschied zu Cartier-Bresson
seien ein Hubmann oder ein Lessing weniger als Künstler als als
Magnum-Pressefotografen wahrgenommen worden, sagt Fink: "Die wenigsten erkannten
die Spitzentechnik, die die Bilder erst ermöglichten." Mit der Beteiligung an
der EU-finanzierten Initiative "Monat der Fotografie" soll dieser Wahrnehmung
nun allmählich ein Ende bereitet werden.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe,
4.11.2004)