Salzburger Nachrichten am 04. November 2002 - Bereich: kultur
Bazar der Balkan-Mythen

"Auf der Suche nach Balkanien": Eine politisch aktuelle Ausstellung in der Neuen Galerie Graz

Offene Türen nach Südosteuropa: Wo beginnt der Balkan? In Wien, in Spielfeld, Maribor, Split, Sarajevo, Belgrad, Tirana, Sofia oder in Izmir? Der Balkan sei ein imaginä-res Land, eine Metapher für die verdrängten Probleme Europas, befindet Peter Weibel, Chefkurator der Neuen Galerie Graz, und setzt gemeinsam mit den Kuratoren Eda Cufer und Roger Conover zur Landvermessung einer symbolischen Geografie an.

In der Ausstellung "Auf der Suche nach Balkanien", die rund 60 Künstler und Kollektive aus mehr als einem Dutzend Staaten Südosteuropas präsentiert, wird der Versuch gemacht, nicht bloß durch ein Fenster auf weniger Bekanntes zu blicken, sondern "die Türe aufzumachen, dass die Leute auch hereinkommen können" (Weibel).

Die Türe ist - zumindest auf Zeit - mehr als nur einen Spalt geöffnet, die kreativen Vertreter aus dem benachteiligten, traumatisierten, weil hierzulande mitunter vergessenen Subkontinent wurden vom Kuratoren-Trio angehalten, ihre Werke nicht der vom "white cube" geprägten, westlichen Museumslogik anzupassen, sondern in einer vom Straßen- und Marktleben geprägten "balkanischen Ausstellungsarchitektur" zu arrangieren.

Radikale Kunst aus Südosteuropa

Die sich auf zwei Stockwerken ausbreitende Bazar-Atmosphäre mag eine Verlebendigung bewirken, ob der bisweilen übervoll wirkende Ausstellungs-Parcours eine geeignete Strategie ist, bestehende Vorurteile abzubauen, ist aber fraglich.

"Auf der Suche nach Balkanien" fasst die seit einigen Jahren in die Westkunst einfließende Tendenzen zusammen, ermöglicht einen Einblick in das "Who is who" und in die Grammatik der aktuellen südosteuropäischen Kunst: radikales, politisches Statement von Rasa Todosijevic ("Gott liebt die Serben" heißt die in Hakenkreuz-Formation montierte Möbelskulptur"), aktionistische Entblößung von Vlasta Delimar, die auf den Spuren von Lady Govina nackt ausreitet und damit gegen das Phänomen Unrecht protestiert, ironische Geste, etwa wenn Erzen Shkololli über das von einer professionellen Folk-Interpretin gesungene Lied "Hey You" die mangelnde Solidarität Europas anprangern lässt oder dramatischfeministische Aufschreie (Sanja Ivekovic). Auf einem Foto des Künstlerkollektivs Irwin posiert der Philosoph Slavoj Zizek im Wiener Sigmund-Freud-Museum, Milomir Kovacevic zeigt Beispiele aus seiner Fotoserie über das Schicksal der einst allgegenwärtigen Tito-Porträts.

Faszinierend erscheint die Lebensgeschichte des in einem Mini-Museum gewürdigten Erfindergeistes Nikola Tesla, gespenstisch die von Bashkim Shehu aufgezeigte Machtwut des albanischen Diktators Enver Hodscha.

Was die im Trend liegende Ausstellung anschaulich zu vermitteln vermag? Der Balkan kennt keine Grenzen, Balkanien existiert in unseren Köpfen. Hier Mythos, da Realität: eine exzellente Identitätserkundung stellt die von Dusan I. Bjelic und Obrad Savic herausgegebene Begleit-Publikation "Balkan as Metaphor" dar. (Bis 1. 12.)

MARTIN BEHR