Voici, 100 ans d'art contemporain

 

 

 

 

Roger M. Buergel

 

 

Palais des Beaux-Arts
Brüssel
23.11.2000 - 28.1.2001

 

Der Kurator, Thierry de Duve, hatte sich mit seiner Ausstellung das ehrgeizige Ziel gesetzt, das Massenpublikum mit der Moderne zu versöhnen. »Voici« will soviel sagen wie: »Hier bitte, das bin ich, ich Kunstwerk, auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen fremdartig, doch im Grunde Dir entsprechend: Dir, Mensch, Du«. Die stereotype Reaktion vor einem komischen Metallteil von Anthony Caro oder einer grünen Bildfläche von Günter Umberg war dann auch ein »Ahhhhh«; man konnte sogar beobachten, wie Leute vor der Mitmachmaschine von Max Dean (»As yet Untitled«, 1992-95) schüchtern erröten, wenn diese sie alle 30 Sekunden mit der Alternative konfrontiert, ein aus einer Vorratskiste gefischtes und hochgehaltenes Foto entweder zu vernichten oder zu bewahren.

Auf die unmittelbar glückende Kommunikation konnte sich de Duve im Zuge seiner Versöhnungsarbeit aber gerade nicht verlassen und bediente sich daher einer anderen Maschine. Mit Erwerb des Eintrittsbillets bekam jeder Besucher einen Walkman ausgehändigt, der ihn oder sie von Kunstwerk zu Kunstwerk, von Saal zu Saal, durch den gesamten dreiteiligen Ausstellungsparcours hindurch geleitete. Auf diesem Walkman hörte man niemand anderen als den Kurator selbst in einer sanften Flüsterstimme, die ziemlich genau die Mitte hielt zwischen Märchenonkel und Kindesverführer. Das Genre der subversiven Führung hatte schon Andrea Fraser zu einiger Perfektion getrieben. De Duve hinkt ihr da nicht nach. Man hört, wie viel Kreide er gefressen haben muss, um den Diskurs ästhetischer Negativität - immerhin das Herzstück der Moderne - soweit herunterzukochen, dass Negativität als bloße Unvertrautheit erscheint, der man mit einigen aparten Theoriewendungen und kennerhaftem Zungenschnalzen abhelfen kann. Und tatsächlich ist es die Haltung des Connaisseurs - des Bourgeois, der vorgibt zu verstehen -, die hier in Zeiten der Ersetzung des Bürgertums durch ein illiberales Kleinbürgertum ihre Auferstehung feiert. Das ist die Rolle, die zu übernehmen de Duve seinem Publikum nahe legt. Aber warum diese Rolle? Warum Versöhnung?

Die Antwort gibt der Parcours der Ausstellung selbst. Das erste der drei Segmente - »Das bin ich« überschrieben - konstruiert eine Reihe sehr eleganter Korrespondenzen. Beispielsweise zwischen »Tanktotem IX« (1960) von David Smith, Rodins Skulptur »L'Âge d'airin« (1875/76) und »Single I« (1996) von Louise Bourgeois. Oder zwischen Beuys? »Wirtschaftswerte« (1980), Gerhard Richters »Blumen« (1994) und einem unglaublichen Fautrier von 1924, »Le Bouquet de violettes«. Dieses Segment, in dem sich die Kunstwerke vorstellen, überzeugt durch seine Stringenz. Die einzelnen Objekte strahlen dank guter Saalregie zu wenig aus. Erst ihre Abfolge oder Konfrontation erzeugt jene visuelle Evidenz, die den Formen die Potentialität zurückgibt, die in ihnen schlummert. Das zweite Segment trägt den Titel »Das bist Du« und gerät, wie nicht anders zu erwarten, ziemlich didaktisch. De Duve versucht aus der Not eine Tugend zu machen, indem er nach einer schleppenden Abhandlung über Spiegel oder spiegelnde Fensterscheiben - Lee Friedlanders »Colorado (Self Portrait)« von 1967 - einen Saal voll abstrakter Bilder (Ryman, Fontana, Mangold, Mondrian usw.) hängt, dessen vordergründige Homogenität durch einen Knabenkopf von Pavel Tchelitchev gebrochen wird. Dazu die Flüsterstimme: »Haben Sie bemerkt, wie intensiv der junge Mann von Tchelitchev auf Sie starrt? Die anderen Bilder starren aber auch! Und haben Sie bemerkt, dass das eine Auge viel größer ist als das andere? Als sei die eine Gesichtshälfte 50 cm weiter vorn?

Aber genau darum geht es bei den anderen Bildern auch: dass man die richtige Distanz findet! Jedem das seine. « Doch schließlich, im dritten und letzten Segment »Das sind wir« kommt der Kollaps. Vor einer projizierten Wand mit 17 reglos verharrenden Männern (»Viewer« [1996] von Gary Hill) geht es nicht mehr weiter, sondern nach links oder rechts, in die Richtungen Tod, Sexualität, Brüssel, Globalisierung, Konzentrationslager und so weiter. Der Diskurs der Flüsterstimme zerfällt. Er geht an sich zugrunde, ähnlich wie der an Selbstreflexion erkrankte Weltcomputer in Godards »Alphaville«. Für diesen (nicht unsympathischen) Kollaps dürfte es mehrere Gründe geben. Da ist zum einen die frivole Prätention einer einzigen Stimme, die Wahrheit über die Moderne zu sagen. Das kann nicht gut gehen. Zum zweiten verrät gute Kunst (und gute Kunst ist es allemal, wenn der Connaisseur die Hand im Spiel hat) nicht, was wir sind, sondern stellt diese Kategorien gerade zur Disposition. Mit anderen Worten, de Duve zahlt in diesem letzten Abschnitt den Preis für sein Versöhnungsprogramm. Aber woher kommt nun überhaupt dieser Wille zur Versöhnung? Mir scheint, er ist das Resultat einer großen Angst. Die mit dem Museum und den Schönen Künsten verbundene Idee des bürgerlichen Bildungsprogramms zieht nicht mehr, zugleich ist den sensiblen Vertretern dieser Ideologie bewusst, dass es noch immer darum geht, einen gewaltbereiten Mob zu zügeln. Und so bringt man den Leuten die Dinge nahe.

Dazu werden sie am Kopfhörer herumgeführt und müssen sich einflüstern lassen, dass diese Dinge zwar anders aussehen als sie selbst, aber eigentlich gleich sind. Was aber, wenn sie tatsächlich anders sind?

 

   

 

 

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