Artikel aus profil Nr. 23/2002
Von West-Kunst zur Welt-Kunst

Am 8. Juni wird die Documenta 11 eröffnet, die weltweit wichtigste Schau ihrer Art. Es soll die erste wirklich globale Großausstellung werden.
Sogar Bankangestellte und Hotelmanager sind kürzlich gebrieft worden. Und auch die Taxifahrer Kassels mussten alles über die neuen Standorte der Kunstschau lernen. „Fit für die Documenta“ heißt das Vermittlungsprogramm, mit dem die Behörden die Dienstnehmer der 200.000 Einwohner zählenden nordhessischen Stadt unlängst konfrontiert haben.

Der Aufwand muss sich rechnen. Tatsächlich trägt die Documenta, die am 8. Juni offiziell eröffnet wird, dazu bei, dass nicht allein die Stadt Kassel wirtschaftlich floriert, sondern eine ganze Region. Die Documenta hat zwar Seltenheitswert – sie findet nur alle fünf Jahre statt –, ist aber noch immer die weltweit bedeutendste und größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst.

High und Low

650.000 Besucher kamen 1997 zur Documenta X nach Kassel. Heuer stehen die Chancen gut, dass während der traditionell genau 100 Tage dauernden Ausstellung noch mehr Menschen ins temporäre Kasseler Kunstzentrum pilgern werden. Dafür gibt es Gründe: Erstens läuft die Werbemaschinerie für Kassel bestens. Zweitens scheint die bildende Kunst eine Projektionsfläche für Sinnsuchende aller Couleurs geworden zu sein. Drittens haben moderne Medien wie Film und Video das Ausstellungswesen inzwischen popularisiert. Viertens kann im Namen der Kunst alles getan und gesagt werden – verbindliche Regeln haben sich längst als ein Anachronismus des letzten Jahrhunderts herausgestellt. Und fünftens dürfte die Documenta mit ihrem gegenwärtigen Konzept den schwierigen Spagat zwischen High und Low, Nord und Süd, Avantgarde und Establishment vollziehen können.

Dies ist in erster Linie das Verdienst des künstlerischen Leiters Okwui Enwezor und seines Teams von Co-KuratorInnen, die die Documenta mit fünf Diskussionsplattformen erstmals zu einem globalen Kunstereignis werden ließen. 18 Monate lang waren die Organisatoren auf solchen Plattformen in Wien, Neu Delhi, Lagos, St. Lucia und Berlin unterwegs, um zeitgenössische Problematiken von Kunst, Politik und Gesellschaft zu untersuchen: eine konsequente Ausweitung, die von westlichen Kritikern mit der eher abfälligen Bezeichnung „Frequent-Flyer-Aktivitäten“ kommentiert wurde. Aber Okwui Enwezor ist in der – noch nicht sehr langen – Documenta-Geschichte (seit 1955) nicht nur der erste Nicht-Europäer, sondern auch der Erste, der glaubhaft den Anspruch einer wirklich globalen Documenta vertreten kann: von West-Kunst zu Welt-Kunst sozusagen.

Enwezor, als 39-Jähriger auch einer der jüngsten Chefs der Documenta, ist ganz selbstverständlich mit den Ambivalenzen der neuen Weltordnungen aufgewachsen. Die „postkolonialen Konstellationen“, so meint er, seien natürlich der Ausgangspunkt für seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst. Darunter versteht er ebenso die Reflexion über die historischen und politischen Produktionsbedingungen von Kunstschaffenden wie deren „Analyse der zivilen Gesellschaft“.

Bemerkenswert an diesem Konzept ist weniger die Tragweite meiner politischen Dimension als vielmehr die Tatsache, dass Okwui Enwezor damit überhaupt an die Spitze eines West-Kunst-Unternehmens gewählt wurde. Dass ein künstlerischer Leiter der Documenta im Vorfeld erklären kann, er habe nicht den Ehrgeiz, eine reine Kunstausstellung zu organisieren, wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen: ein Moment, das darauf hindeutet, dass sich die Welt tatsächlich „in einer neuen Geografie der Kulturen“ formiert, wie Enwezor das im profil-Interview ausdrückt.

Nun ist Okwui Enwezor aber auch, im Gegensatz zu seiner streitbaren Vorgängerin Catherine David, ein sehr höflicher, kulanter Mensch. Die Documenta, die er in den letzten fünf Jahren vorbereitet hat, wird wohl auch als Beweis seiner integrativen Fähigkeiten gewertet werden können. Die lange als Geheimnis gehütete Künstlerliste jedenfalls verspricht Bewährtes neben Unbekanntem. Alte West-Kunstmarkt-Größen wie Louise Bourgeois, Thomas Hirschhorn oder On Kawara finden sich da selbstverständlich neben selbstverwalteten Kollektiven wie Colectivo Cine-Ojo aus Chile, der Gruppe Huit Facettes aus Senegal oder Film- und Performancekünstlerinnen wie Joan Jonas oder Trinh T. Minh-ha, die erst in den letzten paar Jahren in den Kontext der bildenden Kunst Eingang gefunden haben. Mit diesem Ansatz Enwezors, verschiedene Generationen quer durch alle Stile miteinander zu verbinden, könnten sich tatsächlich so etwas wie neue Interpretationsmuster innerhalb der bildenden Kunst auftun. Eines allerdings wird sich auch mit dieser Documenta nicht ändern: Die Bedeutung der renommierten Kunstveranstaltung bleibt bestehen. Wer nämlich zur Documenta-Teilnahme auserkoren wurde, ist praktisch schon im Kunst-Olymp angelangt.

Autor: Patricia Grzonka


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