Project Space

Neues Leben in Ruinen: Detroit - Stadt als Material

27. April 2010, 17:49
  • Artikelbild: "Ziggurat" (2007-2008): Künstler Scott Hocking hat in den Ruinen einer
vor 20 Jahren stillgelegten Fabrik Millionen Parkettholzstäbe gefunden
und zu einer pyramidalen Skulptur geschichtet. - Foto: Hillberry Gallery
    vergrößern 600x400

    "Ziggurat" (2007-2008): Künstler Scott Hocking hat in den Ruinen einer vor 20 Jahren stillgelegten Fabrik Millionen Parkettholzstäbe gefunden und zu einer pyramidalen Skulptur geschichtet.


Mit der Ausstellung "Detroit" startet die Kunsthalle Wien eine Serie, die Städte als Metaphern für den Wandel der Welt versteht

Wien - Gänsefuß, Storchschnabel und Hundskamille erobern das Zentrum Detroits. Nachts streunen Kojoten durch die Stadt. Da, wo ganze Viertel zusammenbrechen, entstehen reine Naturlandschaften: Wiese und Wald. Wildromantisch? Wohl eher Verwilderung: bitteres Zeugnis des Niedergangs. Die einst blühende Industriestadt, die "Motor City" Detroit, kämpft seit 1950 mit drastisch schrumpfenden Einwohnerzahlen. Von einst 1,8 Millionen Menschen auf 900.000. 80 Prozent der Bevölkerung sind Afroamerikaner; die Mittelschicht lebt an der Peripherie hinter der "8 Miles" -Grenze - ein Begriff, den Regisseur Curtis Hanson 2002 in seinem Filmdrama mit Rapper Eminem bekannt machte.

  • MEHR ZUM THEMA
  • Schön:Jetzt buchen! Flüge ab 29€ - flyniki.com
  • weg:Fernweh? Jetzt buchen auf austrian.com

Die Rassenunruhen von 1967 setzten der Stadt heftig zu; kleine und große Wirtschaftskrisen taten ihr Übriges. Hohe Arbeitslosigkeit, viel Kriminalität. Zum Beispiel Versicherungsbetrug: Um die verfallenen Hütten noch irgendwie zu Geld zu machen, werden sie angezündet. Mehrere Dutzend Mal pro Tag rückt die Feuerwehr aus.

Und in den klassischen Straßenkreuzern, die an die goldenen Zeiten bei Ford, General Motors und Chrysler erinnern, sitzen heute Zuwanderer, um an einen längst verschütteten amerikanischen Traum anzuschließen. Für die dänische Fotografin Corinne Vermeulen, die in der Geisterstadt künstlerische Heimat gefunden hat, posieren sie stolz vor den aufpolierten Karossen. Vermeulen dokumentiert auch Re-Ruralisierungsprozesse. Arbeitslose haben begonnen, die leeren Flächen zu bestellen. Selbstversorger mitten in der Stadt, die allerdings in Zelten und Wohnwägen wohnen, weil die Häuser zu desolat sind.

Dort trotzdem Leute anzusiedeln sieht Mitch Cope auch als künstlerische Aufgabe: Im Rahmen seines Power House Projects hat er für 1900 Dollar ein vollkommen ausgeweidetes Haus - Banden ließen sogar Kupferrohre und elektrische Leitungen mitgehen - gekauft. Als autonomes mit Wind- und Solaranlage versorgtes Haus, soll es Nachahmer motivieren.

Götterhain in Industrieruine

Bei einer Tour durch die Industrieruinen sollte man sich Scott Hocking anvertrauen. Der Künstler sammelt hier nicht nur die "Reliquien" für seine urbanen Schreine, sondern inszeniert in den Überresten des Industriezeitalters, in denen Asbest und anderes Baugift zusammen mit Regenwasser bereits Stalaktiten formen, symbolisch aufgeladene Fotografien: Alte auf Säulenstümpfe gestellte TV-Apparate werden zum modernen Götterhain, und aus Millionen Parkettholzstäben erwächst eine Pyramide. Wachsen aus der Asche alter Tempel neue erfolgreiche Dynastien? Diese und andere Projekte (u. a. von Ellen Cantor, Matthew Barney, Jesper Just) haben Detroit nicht nur zum Thema, sondern nutzen es als Material - bisweilen auch nur im übertragenen Sinn.

Inmitten des gläsernen, leider etwas knappen Ausstellungsraums am Karlsplatz trifft nun eine desolate, aber sich aufrappelnde Stadt auf ein quirliges Zentrum; treffen Ruinen und Unkraut auf schön gefärbelte Fassaden und englischen Rasen. Die Idee zur begonnenen Ausstellungsserie war, "anhand von fünf Städten die fundamentalen Veränderungen dieser Welt - soziale, kulturelle, ökonomische - darzustellen", sagt Kunsthallendirektor Gerald Matt. Beirut, Lagos und Saigon sollen beispielsweise folgen. "Stadt als Metapher für den Wandel der Welt."

Detroit steht aber nicht nur für das Ende des Industriezeitalters, sondern auch für einen Neuanfang. Viele Künstler haben ihre Ateliers an den Lake Erie verlegt. Platz gibt es genug und mit dem Detroit Institute of Arts auch ein wichtiges Museum. Allein Galerien und kaufkräftige Klientel sitzen woanders.

Etwa in New York. Der abgefuckte Detroiter Charme scheint dort, wo man lange Zeit nur die lokale Szene hofierte, auf Interesse zu stoßen. John Corbin, der lange Zeit im Big Apple wohnte, erzählt von einem Galeristen, der wohlwollend bemerkte: "Ah, du bist ein Detroiter Künstler!" Detroit ist also am Weg, eine verwertbare Marke am globalen Kunstmarkt zu werden.

Corbin: "Wenn man am Boden aufgeschlagen ist, kann es nur noch aufwärts gehen." (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD/Printausgabe, 28.04.2010)

Bis 31. 5.

druckenweitersagen:
posten
5 Postings
28.04.2010 12:25

dieses bild aus detroit hat mich fast am meisten beindruckt.
oper als garage...

http://thumb1.visualizeus.com/thumbs/09... 5af8_m.jpg

28.04.2010 09:50
.
[1]
.

Coole Fotos von Detroit: http://www.jamesgriffioen.net/

Ziemlich leichter Stessa
28.04.2010 11:45

Stimmt

28.04.2010 08:36
.
[1]
.
"Detroit ist also am Weg, eine verwertbare Marke am globalen Kunstmarkt zu werden."

... wenn alle recht schön brav drüber schreiben, sicher.

cooper the Bloom 
28.04.2010 00:45
.
[1]
.
Detroit ist

meiner Meinung nach zur Zeit wirklich die spannendste Stadt in den USA. Nicht ganz ungefährlich, aber die Kunstszene ist dort radikal und arbeitet aus einer echten Dringlichkeit heraus, die man sonst in diesem Land nicht kennt. Kombiniert mit der atemberaubenden Architektur ist das eine unsagbar reiche Quelle an Inspiration.

Die Kommentare von User und Userinnen geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich vor, Kommentare, welche straf- oder zivilrechtliche Normen verletzen, den guten Sitten widersprechen oder sonst dem Ansehen des Mediums zuwiderlaufen (siehe ausführliche Forenregeln), zu entfernen. Der/Die Benutzer/in kann diesfalls keine Ansprüche stellen. Weiters behält sich die derStandard.at GmbH vor, Schadenersatzansprüche geltend zu machen und strafrechtlich relevante Tatbestände zur Anzeige zu bringen.