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Globart-Symposium: "Semi-depressives Großkonstrukt" Europa

28.03.2007 | 18:29 | CHRISTOPH WEINBERGER (Die Presse)

Peter Sloterdijk analysierte im St.Pöltner Landhaus das "psychopolitische Experiment" Europa.

Einen Schleier aus „vergoldeter Unzufriedenheit“ sieht Peter Sloterdijk inmitten eines „semi-depressiven Großkonstrukts namens Europa“. Das diagnostizierte der Philosoph in seinem Festvortrag beim von Globart initiierten Symposium „Kompass“ am Dienstag im St.Pöltner Landhaus, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Römischen Verträge.

Titel des Vortrags war „Europa – ein psychopolitisches Experiment“. Europa, erklärte Sloterdijk, ist ein großer Mantel, der uns noch nicht ganz passen will. Was macht das X-Large-Kleidungsstück aus? Sloterdijk definierte es ex negativo: Europa sei postimperialistisch, postmachistisch und postheroisch. Zugrunde liege ihm der Gründungsmythos eines „umgesiedelten Orientalen“: Vergils Aeneas.


„Evangelium der 2.Chance“

Unser Kontinent sei eben ein „psychopolitischer Raum, in dem Verlierer sich regenerieren“, stelle daher ein „Evangelium der zweiten Chance“ dar.

Wie immer wimmelte es in der philosophischen One-Man-Show Sloterdijks nur so von Neologismen, scharfsinnigen Diagnosen und bildhaften historischen Ausflügen. Die schillernde Reise durch die Geschichte Europas endete mit einer Würdigung der skeptischen Haltungen gegenüber einem Klima der Aufheizung. Sloterdijk stand eindeutig im Mittelpunkt des Symposiums: Er wurde umarmt, gegen ihn wurde gewettert, bevor er überhaupt das Wort ergriff. Ansonsten wehte der europäische Geist – begleitet von symbolischen Gesten wie dem Hissen der von 400 Schülern gestalteten EU-Fahnen –, mit unterschiedlicher intellektueller Windstärke.

Nach der vormittäglichen Debatte um die kulturellen und religiösen Wurzeln stand der Nachmittag im Zeichen wirtschaftlicher Schlaglichter auf das, so die einhellige Meinung, „Erfolgsprojekt“ Europa. Was Dracula, Alpenkulissen, Pizzaöfen, entführte Sirenen und deutsche Heldensagen gemeinsam haben, wollten dann Studenten aus sechs Ländern wissen. In neun Kurzfilmen wurde auf liebevolle und ironische Weise die Antwort gegeben und zahlreiche identitätsstiftenden Mythen in künstlerischer Form verdichtet. Dann sprach Johannes Pichler so konzise wie emotionsgeladen über die singulären Standards europäischer Rechtskultur. Und dann, ja dann kam Sloterdijk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2007)


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