Salzburger Nachrichten am 05. Juni 2002 - Bereich: kultur
Die Weltkunstschau
Am kommenden Samstag beginnt die elfte "documenta" in Kassel. Die Schau
gilt als das weltweit wichtigste Forum zeitgenössischer Kunst.
KASSEL (SN, APA, dpa). Die elfte "documenta" wird die bisher größte Ausstellungsfläche in der Geschichte der weltweit wohl bedeutendsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst aufweisen. Ihre fünf Ausstellungsorte nehmen eine Gesamtfläche von 13.000 Quadratmetern ein. Das bedeutet fast eine Verdoppelung gegenüber der "documenta X" vor fünf Jahren. Wichtigster Zuwachs an Ausstellungsfläche ist das Gelände der ehemaligen Binding-Brauerei im Osten von Kassel. Insgesamt werden bis zum 15. September rund 450 Kunstwerke von 118 Künstlern und Künstlergruppen aus aller Welt zu sehen sein. Der aus Nigeria stammende künstlerische Leiter Okwui Enwezor hat die "documenta", die 1955 ihre erste Ausgabe erlebte und seit 1972 alle fünf Jahre stattfindet, auf eine Zeitspanne von - mit Pausen - fast 550 Tagen ausgedehnt, von der ein Gutteil dem Diskurs gewidmet war.
SN-SPEZIAL
DOCUMENTA
Die Ausstellung in Kassel ist nur die letzte von fünf "Plattformen". Die ersten vier waren Symposien-Programme mit über 80 Referenten zu künstlerischen, vor allem aber gesellschaftlichen und politischen Themen. Der Auftakt dieser Diskurse fand im März 2001 in Wien statt, und der Weg führte des Weiteren unter anderem nach Neu Delhi und Lagos. Die Ausstellung in Kassel soll nun ohne den eurozentristischen Blick des Gegenwartskunstbetriebes (so meinte Enwezor im Vorfeld) mehr zeigen als die gegenwärtigen Kunsttendenzen. So wählte Enwezor mit seinem Kuratorenteam zahlreiche Künstler aus, die sich mit den sozialen, politischen und gesellschaftlichen Problemen aller fünf Kontinente auseinander setzen. Mit diesem Konzept knüpft Enwezor an die einflussreichste Ausgabe der Schau, die "documenta 5" von 1972, an, die sich der Isolierung der Kunst von Gesellschaft und Politik entgegenstellte (und der derzeit im project space der Kunsthalle Wien eine dokumentarische Ausstellung gewidmet ist). In dieser politischen Thematik sind unter anderem die New Yorkerin Lorna Simpson mit ihren Untersuchungen der klischeehaften Zuschreibungen von Rassemerkmalen sowie der schwarze Filmkünstler Isaac Julien zu finden. Julien beleuchtet die britische Schwarzen-Bewegung. Der Amerikaner Allan Sekula verhandelt Globalisierung und Kapitalismus. Die iranische Fotografin Shirin Neshat thematisiert die Vorurteile gegenüber Frauen im Iran, aber auch die Vorurteile des Westens gegenüber der islamischen Gesellschaft.
Der afrikanische Kontinent
Etliche - nicht nur afrikanische - Künstler beschäftigen sich mit dem afrikanischen Kontinent: Der südafrikanische Fotograf Santu Mofokeng befasst sich mit dem Anteil der Schwarzen am öffentlichen Leben, der Belgier Luc Tuymans mit der Geschichte des Kongo, die von der Kolonialherrschaft geprägt wird, der Chilene Alfredo Jaar wiederum mit dem Völkermord in Ruanda und der Grenze zwischen Mexiko und den USA im Spannungskreis von Nationalismus und Multikulturalismus.
Aber auch weniger offen gesellschaftskritische Themen finden Einzug, so die mit wissenschaftlichen Untersuchungen verknüpften künstlerischen Arbeiten von dem heuer verstorbenen Argentinier Victor Grippo, dessen bevorzugtes Studienobjekt die Kartoffel war. Der Japaner Ryuji Miyamoto ist mit seiner bekanntesten Fotoserie über das Erdbeben in Kobe vertreten. Und die Hamburger Gruppe "Park Fiction" baut im Stadtteil St. Pauli - ganz real - einen Park. "Die ,documenta' verhilft Künstlern zu mehr Anerkennung auf dem Kunstmarkt", bestätigt Bernd Fesel, Geschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Galerien in Köln. Wie stark der Marktwert mit einer Einladung nach Kassel steigt, vermag er zwar nicht zu beziffern. "Für einen Galeristen ist die Teilnahme eines von ihm vertretenen Künstlers aber immer eine Adelung." Der Kasseler Kunsthistoriker Harald Kimpel begründet die herausragende Rolle der "documenta" mit ihrem "autoritären Anspruch". "In dieser Form hat sich noch kein anderes Unternehmen zugetraut zu sagen: Wir legen fest, was Gegenwartskunst heute bedeutet." Was sich als objektive Bilanz ausgebe, sei gleichzeitig Beeinflussung der Zukunft; mancher künstlerische Trend sei erst von der "documenta" erfunden worden, sagt der Kunsthistoriker. Auch wenn der Vergleich hinken mag: Das olympische Motto "hö-her, schneller, weiter" gilt sinngemäß auch für die Kasseler Weltkunstschau. Die Zahl der Besucher wuchs von 130.000 im Jahre 1955 auf einen Rekord von 631.000 vor fünf Jahren. In diesem Jahr sollen es noch mehr werden.
Informationen im Internet: http://www. documenta.de
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