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Furcht macht sich breit...



Jean-Christophe Ammann, Dr. phil., ist Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt am Main.

Auf dem Alten Kontinent herrscht Skepsis: Steht uns die "Guggenheimisierung" der europäischen Museumslandschaft bevor? Ein Plädoyer gegen übertriebene Ängstlichkeit und das chronische Unterschätzen einer hochmotivierten jungen Generation.

Die Nachkriegszeit in Europa war künstlerisch gesehen eine schwache Zeit. Es überlebten letztlich nur jene Künstler, die schon vor dem Krieg ihre Identität gefunden hatten. Erwähnt seien Alberto Giacometti, Jean Fautrier, Jean Dubuffet, Francis Bacon oder Lucio Fontana. Die anderen tauchten nach dem Krieg mehrheitlich unter im Farbtaumel von Informel und Tachismus. Die Befreiung von den tödlichen Fesseln der Diktaturen war qualitativ nicht gleichwertig mit der neuen zum Ausdruck gebrachten künstlerischen Freiheit. Viele Künstler waren 1933 in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Ihre schöpferische Botschaft erhielt mit jener des Museum of Modern Art, das 1939 sein neues Haus an der 53. Straße West in New York bezog, Signalcharakter. Der Direktor und Gründer des Museums, Alfred H. Barr jr., sagte damals bei der Eröffnung: "Das Museum of Modern Art ist ein Labor: Die Öffentlichkeit wird gebeten, an den Experimenten teilzunehmen." Die Wucht der amerikanischen Kunst nach dem Krieg war enorm. Der Abstrakte Expressionismus und die Farbfeldmalerei gründeten zwar eindeutig auf den Erfahrungen und Erkenntnissen der europäischen Kunst, wurden jedoch in New York in einem unerhörten Maße, und für Europa völlig neu, radikalisiert. In der Folgezeit hielt der Einfluß der amerikanischen Kunst in Europa ungebrochen an. Pop Art, Minimal Art und Conceptual Art prägten die europäischen Kunstlandschaften. Der Einfluß nahm in den frühen siebziger Jahren ein abruptes Ende. Dieses Ende war nahezu identisch mit dem Ende der historischen Avantgarden in diesem Jahrhundert. Anders ausgedrückt: Mitte der siebziger Jahre ging eine bestimmte Geschichte der Kunst, des Theaters und der Musik zu Ende. Der Einfluß der amerikanischen Kunst in Europa hatte dort zu spektakulären Sammlungen amerikanischer Kunst geführt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Europäer die radikalisierten bildnerischen Formen ursprünglich europäischer Provenienz in der amerikanischen Ausprägung oft früher in ihrer Bedeutung erkannten als die Amerikaner selbst. Sammlungen wie jene von Panza di Biumo, Peter Ludwig oder Karl Ströher dürften jedem ein Begriff sein.

»Wir wissen immer noch zu wenig über den amerikanischen Kulturbegriff.«
Guggenheim statt NATO

Von größter Bedeutung für die amerikanische Kunst war die Sammlung von Panza di Biumo in Varese. Sie hatte gerade im Bereich von Minimal Art und Conceptual Art gewaltige Dimensionen angenommen. Viele Werke räumlicher Natur (Skulpturen, Plastiken, Installationen) bestanden aus Konzepten, die ihrer Realisierung harrten. Der Versuch des Sammlers, diese Werke in europäischen Museen unterzubringen, scheiterte. In den achtziger Jahren haben dann zwei amerikanische Museen die gesamte Sammlung erworben. Zum einen das Museum of Contemporary Art in Los Angeles, zum anderen das Guggenheim Museum in New York unter seinem neuen Leiter Thomas Krens.
Wenn die Werke jetzt wieder nach Europa zurückkehren, in Verbindung mit dem herausragenden neuen Museum in Bilbao, so kehrt letztlich nur ein Teil der europäischen Voraussicht zurück. Und dieser Teil ist historisch. Anders ausgedrückt: Es kehrt ein Teil jener amerikanischen Kunstgeschichte zurück, die europäische Sammler allgemein und Panza di Biumo im besonderen frühzeitig für sich beansprucht hatten.
Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer aß ich mit Thomas Krens zu Abend. Wir sprachen über Politik, über die amerikanische Präsenz in Europa und natürlich über die Ziele und den Zweck einer NATO, die des Gegners verlustig gegangen war. Ich schlug ihm vor, daß die Guggenheim Foundation mit ihren zahlreichen Museumsprojekten in Europa die Nachfolge der NATO antreten solle. Er schaute mich ungläubig an, fragte, ob ich dies ernst meine, und als ich bejahte, sagte er, er wolle darüber nachdenken.
Versuchen wir, das Thema in die richtige Richtung zu lenken: Entscheidend ist doch, am Beispiel der besten Kunstwerke – ich sage dies bewußt – ein Geschichtsverständnis zu erlangen. Ich habe etwas gegen Museen als Verschiebebahnhöfe privater Sammlungen. Nicht weil ich etwas gegen die von mir bewunderten privaten Sammler hätte, sondern weil es die Pflicht eines Gemeinwesens ist, Kunst zu sammeln, um das Museum als kollektives Gedächtnis zu stärken. Krens hat vertraglich den Sammlungsauftrag des neuen Museums in Bilbao in dessen eigener Verantwortung festgeschrieben. Statt Ängste zu hegen und Befürchtungen auszusprechen, müssen wir uns selber am Schopf packen. Mir geht es darum, daß die großartigen Sammlungen amerikanischer Kunst, und jene des Guggenheim Museums im besonderen, uns das Auge für einen Zeitraum öffnen, in dem Europa für jeden neuen amerikanischen Schub an künstlerischer Innovation nach einer – oft mühseligen – europäischen Interpretation suchte. Solches ist seit Mitte der siebziger Jahre längst Geschichte geworden. Die amerikanische Kunst ist heute genauso multikulturell, wie die europäische Kunst multiregional geworden ist.
Daß die Guggenheim Foundation zu einer Art Markenartikel auf hohem Niveau avanciert ist, will ich gar nicht bestreiten. Das Textilunternehmen HUGO BOSS als Sponsor des Guggenheim Museums spielt diese Karte hervorragend aus. Denn nicht nur unterstützt das Bekleidungsunternehmen die Ausstellungstätigkeit des Museums, es hat auch den "Hugo Boss Prize" in Verbindung mit dem Guggenheim Museum geschaffen, der jüngere Künstler weltweit in ihrer Tätigkeit unterstützt. Die international besetzte Jury arbeitet völlig unabhängig.
Amerikanische Künstler gehen in Deutschland ein und aus wie eh und je. Die Kunstvereine und Museen zeigen und sammeln ihre Werke. Dazu braucht es die Guggenheim Foundation nicht. Was die amerikanische Kunst bis 1975, durch das Guggenheim Museum, so faszinierend macht, ist der amerikanische Kulturbegriff. Davon wissen wir immer noch zu wenig. Deshalb ist Harold Brodkeys Buch Die flüchtige Seele (Hamburg 1995) so aufschlußreich. Aus diesem rund 1300 Seiten umfassenden autobiographischen Buch habe ich die Erkenntnis gewonnen, daß wir Europäer, kraft unserer jahrhundertealten Geschichte, Begriffe wie glücklich-unglücklich, reich-arm, gut-schlecht aus der Geschichte ableiten.



»Wir müssen aufhören, das Soziale gegen die Kultur auszuspielen. Darin sind wir Weltmeister.«
Minimum an Geschichte

Die Amerikaner, mit einem Minimum an Geschichte, leiten das Leben aus den Begriffen ab. Sie setzen die Begriffe voraus und pumpen sie mit Leben auf. Daraus entstehen die harschen Gegensätze: Die begriffliche Definition ermöglicht die radikale expansive Geste, die räumliche Ausdehnung, ob malerisch oder skulptural. Wir in Europa lassen die Dinge wachsen, gewissermaßen aus dem biographischen Tiefenraum heraus. Frank Stella brachte es 1966 auf den Punkt, als er sagte, daß die europäische Malerei stets auf ein Ausbalancieren ausgerichtet sei: "Man setzt etwas in eine Ecke und balanciert es mit etwas in der anderen Ecke aus... Wir (Kenneth Noland und ich) versuchen nicht, alles herumzukutschieren ... In der neueren amerikanischen Malerei bemühen wir uns, die Sache in die Mitte und symmetrisch zu setzen, um die Sache direkt auf die Leinwand zu bekommen." Diese Direktheit entspricht der begrifflichen Ausgangssituation, die das historisch Gewachsene, im Sinne von Tradition und Herkunft, bewußt negiert. Hinzu kommt die Tradition der angelsächsischen Philosophie, die primär eine Sprachphilosophie (begrifflicher Natur) ist, im Unterschied zur Existenzialphilosophie kontinentaler Prägung. Von einer "Angst in Europa" will ich hier gar nicht sprechen. Wir müssen vielmehr in Deutschland das Zaudern und die Zögerlichkeiten überwinden, vor allem aufhören, das Soziale gegen die Kultur auszuspielen. Darin sind wir, glaube ich, Weltmeister, weil wir die Neugier, die Lernbereitschaft einer hochmotivierten jungen Generation chronisch unterschätzen.



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