Bubikopf gegen Gretelfrisur
Zeitgeschichte. 1800 Exponate, eines interessanter als das andere, bei „Wien um 1930“.
ERNST P. STROBL Wien (SN). Gut, dass Wolfgang Kos, der Direktor des Wien Museums, auf eine gute Idee gekommen ist: Beim Zweitbesuch der tollen Ausstellung zahlt man den halben Preis. Man sollte sich Zeit nehmen für einen gewinnbringenden Besuch.
„Kampf um die Stadt – Politik, Kunst und Alltag um 1930“ ist der Titel der im Wiener Künstlerhaus errichteten Ausstellung. 1800 Exponate auf 2000 Quadratmetern bilden ein umfassendes Zeitgeschichte- und Kulturpanorama und einen als „begehbares Bilderbuch“ gebauten spannenden Bildungsparcours. Wien war um 1930 die erste europäische Großstadt, die von einer Arbeiterpartei regiert wurde. Es geht um das „rote Wien“, das einen brisanten Kontrast bildete zum erzkonservativen Alpen-Österreich.
Eine Figur wie der autoritäre Bundeskanzler Engelbert Dollfuß scheidet bis zum heutigen Tag die Geister. Und Wien wiederum ist bis heute geprägt von gigantischen Wohnbauten wie dem „Karl-Marx-Hof“, welche mithilfe einer zweckgebundenen Wohnbausteuer errichtet wurden. In Wien wurde unter den Sozialdemokraten gegen Massenelend und desolate Verhältnisse angekämpft. Neben Sozialpolitik und Bildungsreform wurde der Bau menschenwürdiger Wohnungen zum Kernstück des „roten Wien“. Dass der damals zuständige Stadtrat Hugo Breitner wegen der „Breitner-Steuer“ von den Christlichsozialen als „Menschentöter“ oder „Würger Wiens“ verunglimpft wurde, steht auf einem anderen Blatt.
Mit einer Fülle von Materialien, Fotos, Filmen, Alltagsobjekten, Kunstwerken, Dokumenten und Modellen wird die Zeit zwischen den mittleren 1920er- und mittleren 1930er-Jahren dargestellt, der Fokus liegt auf Wien. Die junge Republik stand an der Kippe zwischen Demokratie und Diktatur, Aufbruch und Reaktion. Die Frontgräben zwischen Rot, Schwarz und Braun vertieften sich, antisemitische und faschistische Tendenzen breiteten sich aus, eine latente Gewaltbereitschaft heizte das politische Klima an. Andererseits herrschte Aufbruchstimmung, man träumte von Wolkenkratzern, der Jazz und das elegante, auch halbseidene Leben hielten Einzug, das Bürgertum versuchte seinen mondänen Lebensstil zu erhalten.
Bubikopf gegen Gretelfrisur, Asphalt gegen Scholle, moderne Fortschrittsgedanken gegen traditionsgebundenem Verwurzelungsmythos, vor allem in der Politik prallten ideologische Gegensätze aufeinander. Karl Heinrich Waggerl zeichnete in seinem Roman „Brot“ 1930 das Idealbild des einfachen archaischen Kraftmenschen. Anton Kuh und andere scharfzüngige Essayisten kämpften gegen die Provinzialisierung und „Verdorfung“ Wiens.
In dieser Zeit heißester Konfliktfelder verlagerte sich der Kampf auf die Straße. Da zeigt die Ausstellung präzise aufbereitet eine Chronik der Gewalt. Die von der bürgerlichen Regierung geförderte Heimwehr strebte ein autoritäres Regime an, 1933 verkündete Engelbert Dollfuß: „Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorbei“, ein Jahr später war Österreich eine faschistisch-korporative Diktatur, 1934 ermordeten die Nazi Dollfuß.
Der Kulturkampf entzündete sich an Auftritten der Tänzerin Josephine Baker ebenso wie an Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“, auf Protestplakaten hetzten die Nazi gegen die „jüdisch-negerische Besudelung“. Mit aggressiver Propaganda wurde Stimmung gemacht. Auch die Ereignisse um den Brand des Justizpalastes werden dokumentiert, ein angekohlter Gerichtsakt spricht für sich, ein Maschinengewehr ebenso.
Tragische Zeiten. Und dennoch sollte die Lustbarkeit nicht zu kurz kommen, von Freizeitbewegungen wie Wandervögel, Baden am „Gänsehäufel“ und sogar Volkstanz im Gemeindebau abgesehen. Sogar Marlene Dietrich trug eine Lederhose – das Original ist ausgestellt (bis 28. März 2010).www.wienmuseum.at.