Eine
Frau fährt mit einer weißen Moschus-Badekugel im roten Doppeldecker-Bus
durch London, sie hält die höchstens zwei Zentimeter große Kugel auf
ihrer Handfläche und zeichnet mit einer Digitalkamera auf, wie sich die
Stadt en miniature in der Rundung bricht, wie sich nur der kleinste
Teil einer ganzen Welt als Erinnerung einfangen lässt. Die Unfähigkeit,
die Realität unverstellt, objektiv und in Gänze, zu betrachten, ist ein
Thema, das der Künstlerin Gerlinde Helm daraus erwächst - denn ist der
milchige Filter nicht nur eine simplifizierte Visualisierung der
Selektionsmechanismen, die man sich zulegt, um den Strom der
Sensationen zu kanalisieren und auf ein verwertbares Maß
herunterzuregeln?
Doch die London-Tour von 1999 ist in dieser
Form nicht zu sehen, Gerlinde Helm hat das Videomaterial lediglich als
Ausgangspunkt für eine umfangreiche digitale Bearbeitung genutzt:
Ausschnitte des Bildes werden an der Querachse gespiegelt, Farben
teilweise verfremdet oder komplementär verkehrt - so sind die
Reproduktionen der Realität einem Abstraktionsprozess unterworfen. Wer
die Geschichte zu den Aufnahmen kennt, der wird die Häuser draußen, die
Fensterrahmen des Busses drinnen leicht identifizieren können.
Ansonsten dauert es seine Zeit, bis man sich in den manipulierten
Strukturen zurechtfindet. Andererseits belegt auch diese Irritation
wieder eine Voreingenommenheit und ein Gelenktsein des menschlichen
Blicks - er sucht seine Informationen stets zuerst im Zentrum; er sieht
zumeist starr geradeaus und verwertet Details am Rande eher nur
beiläufig.
Um Verkehrungen, Verdrehungen und, daraus
resultierend, Vertauschungen und Verwechslungen geht es also im
digitalen Werk Gerlinde Helms.Schon in ihren früheren bildhauerischen
Arbeiten hat sie sich mit der Spiegelung von Objekten befasst - getreu
dem seit jeher gültigen Glauben, dass Vorbild und Abbild miteinander in
einer Art magischer Korrespondenz verbunden sind: In den Jahren 1994-96
überzog Helm die Einrichtung einer Nasszelle mit lippenstiftrot
eingefärbtem Latex, danach wurde dem Waschbecken und den
Schminktiegelchen diese zweite Haut gewissermaßen vom Leib gezogen: Das
Innere stülpte sich nach außen, aus Sanitär- und Verschönerungs
artikeln wurden nach dem Ausstopfen Ziergegenstände, schön anzusehen
und hygienisch rein - womit die Zielsetzung des Badezimmers (alles
Schmutzige muss weichen) in ironischer Manier beschrieben wäre.
Gerlinde
Helm, die 38-jährige Österreicherin - sie studierte in Salzburg und
Wien und assistierte bei Sylvie Fleury und Katharina Sieverding - wird
derzeit mit ihrer ersten Berliner Einzelausstellung in der Galerie
Blickensdorff vorgestellt; zu sehen sind Videos und großformatige
Fotoarbeiten. Ihr allgegenwärtig fragmentarischer Charakter belegt das
Bruchstückhafte unserer Erinnerung. Wie in einem Kaleidoskop bauen sich
einzelne Splitter zu geometrischen Mustern auf - als könne man auf
diese Art Ordnung schaffen und dem Vergessen begegnen. Nur entsteht so
stets etwas gänzlich Anderes: Aus einem Sommernachmittag im Kreuzberger
Viktoria-Park bleiben satt grüne, gerahmte Farbflächen übrig. Eine
Hand, die einen Luftballon hält, bildet nach vielfachen Spiegelungen
ein zartes Blütenmuster - in einer Variation der Situation sieht das
Ganze dann nach üppiger Fleischeslust, kurz: nach entblätterten
Genitalien aus.
Überhaupt ist die sinnliche Freude frappierend,
die aus der philosophischen, strikt theoretischen Herangehensweise
erwächst: Gerlinde Helms starkfarbige Exponate haben eine so zarte,
verrätselte Poesie, wie sie die bizarren Gebilde der fraktalen
Geometrie oder auch Eisblumen am Fenster aufweisen, man versinkt in
ihren feinen Verästelungen mit genussvollem Entdeckerdrang.
"Kristallisationen" ist denn auch der bevorzugte Begriff Helms für ihre
Werke; kommt man ihr mit der Bezeichnung "Ornament", lehnt sie ihn
ähnlich besorgt ab, wie das alle Bildenden Künstler seit Beginn der
Abstraktion tun. Zu sehr schwingt darin für sie das Dekorative, das
absichtslos Schöne mit - obwohl darunter ja ebenso gültig (und
zutreffend) die Erschaffung autonomer, selbstähnlicher Formen
verstanden werden kann.
at the beginning of something else bis
zum 18. Januar in der Galerie Blickensdorff (Gipsstraße 4/Mitte,
geöffnet Di-Fr 14-19, Sa 12-16 Uhr)
Wie in einem Kaleidoskop bauen sich Splitter zu geometrischen Mustern auf.
GALERIE BLICKENSDORFF Das Spiel mit einem Luftballon - der Computer ordnet es zu abstrakten, blütenähnlichen Strukturen.