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Der verkehrte Blick

Gerlinde Helms erste Berliner Einzelausstellung in der Galerie Blickensdorff

07.01.2003

Feuilleton - Seite 10

Carmen Böker

Eine Frau fährt mit einer weißen Moschus-Badekugel im roten Doppeldecker-Bus durch London, sie hält die höchstens zwei Zentimeter große Kugel auf ihrer Handfläche und zeichnet mit einer Digitalkamera auf, wie sich die Stadt en miniature in der Rundung bricht, wie sich nur der kleinste Teil einer ganzen Welt als Erinnerung einfangen lässt. Die Unfähigkeit, die Realität unverstellt, objektiv und in Gänze, zu betrachten, ist ein Thema, das der Künstlerin Gerlinde Helm daraus erwächst - denn ist der milchige Filter nicht nur eine simplifizierte Visualisierung der Selektionsmechanismen, die man sich zulegt, um den Strom der Sensationen zu kanalisieren und auf ein verwertbares Maß herunterzuregeln?

Doch die London-Tour von 1999 ist in dieser Form nicht zu sehen, Gerlinde Helm hat das Videomaterial lediglich als Ausgangspunkt für eine umfangreiche digitale Bearbeitung genutzt: Ausschnitte des Bildes werden an der Querachse gespiegelt, Farben teilweise verfremdet oder komplementär verkehrt - so sind die Reproduktionen der Realität einem Abstraktionsprozess unterworfen. Wer die Geschichte zu den Aufnahmen kennt, der wird die Häuser draußen, die Fensterrahmen des Busses drinnen leicht identifizieren können. Ansonsten dauert es seine Zeit, bis man sich in den manipulierten Strukturen zurechtfindet. Andererseits belegt auch diese Irritation wieder eine Voreingenommenheit und ein Gelenktsein des menschlichen Blicks - er sucht seine Informationen stets zuerst im Zentrum; er sieht zumeist starr geradeaus und verwertet Details am Rande eher nur beiläufig.

Um Verkehrungen, Verdrehungen und, daraus resultierend, Vertauschungen und Verwechslungen geht es also im digitalen Werk Gerlinde Helms.Schon in ihren früheren bildhauerischen Arbeiten hat sie sich mit der Spiegelung von Objekten befasst - getreu dem seit jeher gültigen Glauben, dass Vorbild und Abbild miteinander in einer Art magischer Korrespondenz verbunden sind: In den Jahren 1994-96 überzog Helm die Einrichtung einer Nasszelle mit lippenstiftrot eingefärbtem Latex, danach wurde dem Waschbecken und den Schminktiegelchen diese zweite Haut gewissermaßen vom Leib gezogen: Das Innere stülpte sich nach außen, aus Sanitär- und Verschönerungs artikeln wurden nach dem Ausstopfen Ziergegenstände, schön anzusehen und hygienisch rein - womit die Zielsetzung des Badezimmers (alles Schmutzige muss weichen) in ironischer Manier beschrieben wäre.

Gerlinde Helm, die 38-jährige Österreicherin - sie studierte in Salzburg und Wien und assistierte bei Sylvie Fleury und Katharina Sieverding - wird derzeit mit ihrer ersten Berliner Einzelausstellung in der Galerie Blickensdorff vorgestellt; zu sehen sind Videos und großformatige Fotoarbeiten. Ihr allgegenwärtig fragmentarischer Charakter belegt das Bruchstückhafte unserer Erinnerung. Wie in einem Kaleidoskop bauen sich einzelne Splitter zu geometrischen Mustern auf - als könne man auf diese Art Ordnung schaffen und dem Vergessen begegnen. Nur entsteht so stets etwas gänzlich Anderes: Aus einem Sommernachmittag im Kreuzberger Viktoria-Park bleiben satt grüne, gerahmte Farbflächen übrig. Eine Hand, die einen Luftballon hält, bildet nach vielfachen Spiegelungen ein zartes Blütenmuster - in einer Variation der Situation sieht das Ganze dann nach üppiger Fleischeslust, kurz: nach entblätterten Genitalien aus.

Überhaupt ist die sinnliche Freude frappierend, die aus der philosophischen, strikt theoretischen Herangehensweise erwächst: Gerlinde Helms starkfarbige Exponate haben eine so zarte, verrätselte Poesie, wie sie die bizarren Gebilde der fraktalen Geometrie oder auch Eisblumen am Fenster aufweisen, man versinkt in ihren feinen Verästelungen mit genussvollem Entdeckerdrang. "Kristallisationen" ist denn auch der bevorzugte Begriff Helms für ihre Werke; kommt man ihr mit der Bezeichnung "Ornament", lehnt sie ihn ähnlich besorgt ab, wie das alle Bildenden Künstler seit Beginn der Abstraktion tun. Zu sehr schwingt darin für sie das Dekorative, das absichtslos Schöne mit - obwohl darunter ja ebenso gültig (und zutreffend) die Erschaffung autonomer, selbstähnlicher Formen verstanden werden kann.

at the beginning of something else bis zum 18. Januar in der Galerie Blickensdorff (Gipsstraße 4/Mitte, geöffnet Di-Fr 14-19, Sa 12-16 Uhr)

Wie in einem Kaleidoskop bauen sich Splitter zu geometrischen Mustern auf.

GALERIE BLICKENSDORFF Das Spiel mit einem Luftballon - der Computer ordnet es zu abstrakten, blütenähnlichen Strukturen.