22.10.2003 20:56
Sinnestäuschung in der "blauen Blase"
Die erste Schau im neuen Grazer Kunsthaus widmet sich den Phänomenen der
Wahrnehmung in der Kunst - Foto
Die erste Schau im neuen Grazer Kunsthaus widmet sich den
Phänomenen der Wahrnehmung in der Kunst des 20. und beginnenden 21.
Jahrhunderts. "Einbildung" zeigt die Kunst als gleichberechtigten produktiven
Partner in der Kognitionsforschung. Vom Publikum wird Teilhabe verlangt,
Aktivität, um die Werke zu komplettieren.
"Man muss Künstler finden, die kämpfen können", hat der venezianische
Architekturtheoretiker Marco de Michelis zu den beiden Ausstellungsebenen des
"Friendly Alien" der Architekten Peter Cook und Colin Fournier bemerkt. Denn
auch im Inneren der "blauen Blase" verbirgt sich kein White Cube.
Im
Gegenteil: Inszenierung, Verkleidung und Ausleuchtung der amorphen Gewölbe
fordern vehement Dialog ein. Isoliert voneinander lässt sich im Bauch des
Besuchers aus dem All der 60er-Jahre nichts betrachten. Die Wahrnehmung jedes
Objekts ist strikt an seine wenig leise Umgebung gebunden. Dazu dienen auch die
dominanten Rolltreppen der Grazer Dauerinszenierung, verhelfen sie doch den
Staunenden zu Levitationserlebnissen ins Unbekannte.
Kunsthaus-Direktor
Peter Pakesch hat die Einbildung - Das Wahrnehmen in der Kunst zum Thema der
ersten Präsentation im neuen Bau gemacht. Kommenden Samstag wird die
international bestückte Schau feierlich eröffnet - eine Herausforderung für
Künstler, Kurator und Besucher. Geht es doch im Wesentlichen um Teilhabe, darum,
Kunst als produktive Wissenschaft von den Vorgängen in unseren Gehirnen zu
begreifen. Beteiligung wird abverlangt, dafür aber ein solider Erlebnisparcours
geboten.
Etwa bei Marc Adrian: Noch bevor "Op-Art" zum Begriff und Victor
Vasarély deren populäres Aushängeschild wurde, hat der Österreicher mit der
Konvention gebrochen, dass vorrangig Kontemplation vonnöten wäre, Kunst zu
erfahren, stille Versenkung in der Hoffnung, das Bild würde sich öffnen, sein
Wesen preisgeben. Adrian verlangte schon 1955 Teilhabe, forderte vom Betrachter
Bewegung ein - und die Bereitschaft, am Kunstwerk aktiv mitzuarbeiten. Er
ersetzte den abschließenden Firnis des klassischen Tafelbildes durch
Industrieglas, ließ seine "Bilder" durch Hunderte Linsen brechen. Je nach
Betrachtungswinkel und Lichteinfall ergeben sich unzählige Varianten der
Ausgangssituation. Der Betrachter ist daher gezwungen, in Bewegung zu bleiben,
das Tafelbild als "Film" anzunehmen.
Über Alfons Schillings
Rotationsbilder und stereoskopische Malereien, Chuck Closes vermeintliche Fotos,
Heinz Gappmayrs knappe Angaben für komplexe Bilder im Kopf, Richard Kriesches
Pioniertaten mit den jeweils gerade neuen Medien verläuft eine Linie, die an
Markus Raetz' sinnlich verspielten Täuschungen vorbeiführt, Sarah Morris wie
Ester Stocker streift - bis hin zu den trendigen Spiegelkabinetten und
Kristallwelten des Olafur Eliasson.
Dem Erleben stellt Peter Pakesch im
Katalog zur Schau einen fundierten wissenschaftlichen Handapparat nach. Csaba
Pléh, Direktor des Budapester Zentrums für Kognitionswissenschaft, etwa
erläutert einige "Gesichtspunkte der Theorien visueller Wahrnehmung im 20.
Jahrhundert".
(DER STANDARD, Printausgabe, 23.10.2003)