24.10.2002 17:57
Kulturhauptstadt oder Geisterstadt
Eine Stadt kann nur werden, was sie ist
Ein Vater sagte einmal zu seinen Kindern: "Seid’s wer, dann
müsst’s nichts werden." Wie richtig diese Empfehlung ist, beweisen die vielen,
aus denen unseligerweise mehr wurde, als sie sind.
Ob Mensch oder Stadt,
sie können werden, was sie wollen, und man kann sie benennen, wie man will -
letztlich bleiben sie doch, was sie sind. Daher bleibt Wien Wien und Graz Graz,
auch als Kulturhauptstadt.
Genau genommen könnte man stolz auch noch
anführen, wenn Graz zum Jahreswechsel Kulturhauptstadt wird, erhält diese Stadt
den Titel für eine Funktion, die sie in den Siebzigerjahren schon einmal hatte:
Damals galt Graz immerhin als die Hauptstadt der deutschsprachigen
Literatur.
Nach einigen Jahren verflüchtigte sich dieser schmeichelhafte
Ehrentitel. Er wurde auch durch keinen neuen ersetzt. Daher ist die Frage, ob
die aus Brüssel im Anflug befindliche Bezeichnung "Kulturhauptstadt" Graz nicht
zur Unzeit erwischt, nicht ganz unbegründet.
Die umfängliche Aufrüstung
zu diesem Jahr hat zweifellos zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt: Ein
Kunsthaus wird gebaut. Eine Stadthalle wurde gebaut. Eine Veranstaltungshalle
steht vor der Fertigstellung.
2. Spalte
Und, weil das Programm,
mit dem nicht nur diese Schauplätze belebt werden soll, bereits fertig ist, wird
es freilich auch fertig gemacht. Weil die Kritik an Programmen zu den
beliebtesten Gesellschaftsspielen aller Kulturszenen zählt.
Und dies,
obwohl ein Programm, so an- und aufregend oder so einschläfernd es sich
präsentieren mag, nicht die zentrale Frage einer Stadt ist, die nicht nur
Kulturhauptstadt heißen, sondern auch im skizzierten Sinn eine solche sein
will.
Denn eine Kulturhauptstadt hat immer Programm. Und - wie jede
Hauptstadt wird auch die Kulturhauptstadt Graz nicht so sehr durch ihre Gebäude
geprägt, sondern von der Identität ihrer Bewohner, von deren geistigem und
materiellem Niveau und wohl auch von deren Möglichkeiten zur
Entfaltung.
Ohne mündige Bewohner bleibt auch das aufwändigste Programm
ein potemkinsches Dorf, das veranstaltende und produzierende Kunsttouristen
bevölkern. Und ohne mündige Bewohner wird eine Stadt trotz der eindrucksvollsten
Neubauten eher noch eine Geisterstadt als eine wirkliche
Kulturhauptstadt.
Darum sollten alle, denen das Grazer Kulturleben nicht
auf den Lippen, sondern im Budget liegt, eines nicht vergessen:
Es gibt
auch ein Leben nach 2003. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.10.2002)