Regionale10

Der vertraute Blick der Fremden

30. Juli 2010, 17:36
  • Artikelbild: Neun Mitglieder der Familie Nagler starben am 1. April 1945. Maryam 
Mohammadi vereint einige auf diesem Bild mit ihren Nachkommen.  - Collage: Mohammadi
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    Neun Mitglieder der Familie Nagler starben am 1. April 1945. Maryam Mohammadi vereint einige auf diesem Bild mit ihren Nachkommen.


Hinweistafeln aus China in St. Martin, Tanz aus Kenia in Irdning, Bollywood in Öblarn - "Fremdseher" im Ennstal

"Ab Selzthal fahrt kein Zug mehr, da müssen Sie raus" , warnt der Schaffner, "da fahren dann Busse weiter." Verkehrstechnisch ist das obersteirische Ennstal derzeit eine große Baustelle. Die Gemeinde Selzthal ist seit jeher ein Verkehrsknotenpunkt zwischen Ost-West- und Nord-Süd-Linien.

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Das wussten auch jene amerikanischen Flieger, die am 1. April 1945, wenige Wochen, bevor sie Österreich vom Nazi-Regime befreiten, Kurs auf den Bahnhof Selzthal nahmen. Die Infrastruktur galt es zu zerstören. Doch durch die schlechte Sicht, die durch den Hausberg, den Dürrnschöberl, beim Einflug ins Tal gegeben war, kam es an diesem Tag für die bis dahin vom Krieg weitgehend unberührte Gemeinde zur Katastrophe. Einige Bomben fielen zu früh. Auch ein Bunker, in dem Menschen mit ihren Kindern im Ortskern Schutz suchten, wurde völlig zerstört. Unter ihnen war auch ein Ehepaar aus Graz (in der linken Bildhälfte) mit seinen drei Kindern, die für die Osterfeiertage zu Besuch waren. Sie gehörten zur Familie Nagler, deren Wirtshaus noch heute von Nachkommen geführt wird. Die Familie verlor an einem Tag neun Mitglieder.

Noch heute zeugen über 70 Grabsteine in Selzthal mit dem Sterbedatum 1. 4. 1945 von dem Trauma des Dorfes - einem Trauma, über das hier niemand sprach.

Ausgerechnet eine junge Iranerin, die in Graz lebende Fotografin Maryam Mohammadi, sollte die Menschen hier im Juli 2010 dazu bringen, über den Krieg zu reden. Eine Fremde, eine Besucherin, die nicht einmal Deutsch spricht. Sie war zwei Wochen zu Besuch, um eine künstlerische Arbeit über Selzthal und ihre Gastgeber zu machen. Neben ihr kamen noch 13 andere Künstler aus aller Welt für das Projekt fremdsehen des Festivals Regionale10, das noch bis 14. August im Bezirk Liezen läuft, in verschiedene Orte im Ennstal.

"Du hast uns aufgerüttelt, Maryam" , wird eine Frau ihr später sagen, "wir schauen erst jetzt unsere alten Fotos an." Die Kinder im Dorf und der Krieg hatten Maryam Mohammadi den Weg zu den Geschichten und Bildern der Selzthaler geebnet. Die 31-Jährige weiß selbst, was Krieg bedeutet. Als sie zehn war, hat sie ein Bombardement in Teheran überlebt. Eine Freundin von ihr starb dabei. "Hast du sie vermisst?" , fragt ein kleines Mädchen in der Volksschulklasse in Selzthal, wo sie ihre Geschichte erzählt, in die Stille des Klassenzimmers hinein. Die Lehrerin, die ebenfalls zugehört hat, weint. Die Zehnjährigen hören gebannt zu. "Ja" , sagt Mohammadi. "Leid verbindet mehr, wenn man es mit jemandem teilt, als wenn man etwas über seine glückliche Ehe erzählt" , erklärt sie Tage später.

Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, mit denen die Fotografin arbeiten wollte, wollte zuerst niemand haben. Aber dann kam Vanessa (im Bild ganz rechts), Tochter des Wirtshauses der Familie Nagler, in dem Mohammadi untergebracht war, plötzlich mit einer Schachtel alter Fotos zu ihr. Das Mädchen war auch in der Klasse, in der die Iranerin zu Besuch war. Sie wollte nun auch von den Bomben, die einst auf ihr Dorf fielen, mehr wissen. Und dann redeten auch die Erwachsenen. So entstanden Mohammadis Arbeiten, die bis 13. August in Selzthal ausgestellt sind. Bilder von heute wurden mit alten Dokumenten, Postkarten oder Grabinschriften überblendet. Vanessas Familie wurde vor derselben Wand des Wirtshauses aufgestellt wie ihre Vorfahren 1945.

Über Faschismus habe sie mit den Leuten nicht geredet, sagt Mohammadi: "Ich bin keine Historikerin, ich wollte darüber reden, wie Krieg in das persönliche Leben von Menschen einbricht." Sie habe hier allerdings auch "kein gutes Wort über die Nazis gehört" .

"Kohlrabiblätter kann man doch net essen!" Mit ganz anderen Themen beschäftigte sich in der Zwischenzeit Mercy Otieno aus Kenia in Irdning. Auch die junge Schauspielerin fand nicht sofort, aber dann doch den Zugang zu den Menschen hier. Sie kochte und tanzte mit Kindern und älteren Leuten im Ort. Dass Pensionisten und Senioren nicht das Gleiche sind, sondern entweder der SPÖ oder der ÖVP zugehören, musste sie erst lernen.

Dass man sie anfangs teilweise anstarrte, wenn sie durch den Ort ging, beeindruckte sie wenig: "Wenn du als weiße Frau in ein Dorf zu uns kommst, schauen sie dich auch an." Nach anfänglicher Skepsis der Irdninger aß man alles gerne, was man gemeinsam gekocht hatte. "Auch die Kohlrabiblätter!" , schmunzelt Otieno. Das Phänomen des "Fremdseins" begegnete der Kenianerin nur zwischen anderen: "Eine Energie von Fremdheit hab ich zwischen den verschiedenen Kindergärten aus dem Ort oder zwischen den Chören gespürt." Diese Gruppen führte die Frau aus Afrika zusammen. Bei Otienos Abschlussfest vor einer Woche tanzten, sangen und feierten fast 200 Einheimische. Im Winter will sie zum Skifahren zurückkommen.

Telenovela und Bollywood


Auch die chilenische Künstlerin Carla Bobadilla wird nach zwei Wochen in Pruggern ihren Urlaub hier verbringen. Sie begleitete Menschen im 650-Seelen-Dorf im Arbeitsalltag und erfuhr Geschichten, mit denen sie eine Telenovela drehen könnte. Den Geschichten ordnete sie später Farben zu und schuf so eine Dorfchronik aus Texten und Bildern, die sie auf Tafeln im Dorf installierte. Da liest man etwa vom Robert, der seinen Körper der Wissenschaft widmete: Seit 1907 lernen Kinder in der Dorfschule anhand seines Skelettes Anatomie.

Pamir Harvey aus Indien befragte in "seiner" Gemeinde Öblarn Menschen zum Thema Liebe. Die Zitate vermischte er mit Textpassagen der Heimatdichterin Paula Grogger, mit denen er Filmstills aus kitschigen Bollywoodfilmen untertitelte. Seinen Lieblingssatz sagte eine ältere Dame: "In der Liebe wird überall gelogen."

"Würden Sie diese Gegend verlassen wollen?", fragte Emina Saric aus Bosnien ihre Gastgeber in Aigen und Donnersbach. Sie traf dabei auf einen 80-jährigen Weltenbummler ebenso wie auf einen 21 Jahre alten FP-Funktionär. "Sie haben angefangen über ihr eigenes Gefühl für Fremde und Heimat nachzudenken" , erzählt Saric, "in der Stadt herrscht die Meinung, dass die Menschen am Land eher konservativ sind. Ich habe genau das Gegenteil erlebt."

"Ich hab das auch so erlebt", erzählt Bobadilla, die in Wien lebt, "ich glaube sogar, die Leute hier fühlen sich selber etwas abseits, nicht ganz als Teil Österreichs. Die Kinder hier sprechen zum Beispiel Dialekt und brauchen in der Schule drei Jahre, bis sie den zweiten und dritten Fall lernen."

Kinder aus St. Martin am Grimming lernten diesen Juli übrigens, ihre Namen auf Chinesisch zu schreiben. Der Besuch der aus China stammenden 26-jährigen Bloggerin Jin Yan, die Märchen mitbrachte, bewirkte aber noch mehr. Der Bürgermeister unterstützte sie darin, chinesische Hinweistafeln im Ort anzubringen. Einen Beschluss des Verfassungsgerichtshofes brauchte es nicht. (Colette M. Schmidt, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 31.07./01.08.2010)

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