Database > Exhibition / Event > Peter Weibel. Der künstliche Wille

Peter Weibel. Der künstliche Wille

10.09.1984

Ars Electronica 1984, Linz / Österreich
Brucknerhaus, Linz / Österreich

ELEKTRONISCHE MEDIENOPER I (Uraufführung)

mit Peter Weibel, Susanne Widl, René Felden u. v. a.
MUSIK: Noa-Noa, Zyx.
VISUELLER KOMMUNIKATOR UND OBJEKTE: Werner Degenfeld.
PRODUKTIONSLEITUNG: Marcus Eiblmayr, Marco Ostertag.
BILDREGIE: Gregor Eichinger.
SPEZIALTECHNIK: Frank Michael Habla.

Und darin leit der Wille, der stirbet nimmer.
Wer kennet die Mysteria des Willens sampt seiner Macht?
Ist doch Gott selbst nur ein großer Wille,
der durchdringt alle Dinge ob seines hohen Eiferns....
Der Mensch stehet den Engeln nach,
ja letztlich dem Tode selbst,
nur kraft der Schwäche seines so matten Willens.

Joseph Glanvill (1636–1680), Saducismus Triumphatus

In Österreich hat Kultur eine Tarnfunktion: Beschönigung des Status quo, Beschwichtigung der sozialen Spannungen. Kultur in Ö steht in den Diensten der Sozialpartnerschaft, deren Instrument die Subventionspolitik ist. Kultur in Ö ist vorauseilender Gehorsam, konfliktscheu dient sie der Errichtung einer Illusion der Realität im Sinne des sozialpartnerschaftlichen Konsensus, d.h. im Sinne der Mächtigen. Mit Hilfe der Subventionen steuert der Staat die Tarnfunktion der Kultur, fördert die Konsenskultur und lähmt dissidente Kunst. Haben Kultur und Kunst nur eine beschwichtigende Tarnfunktion, dann haben meine Gegner recht – bin ich kein Künstler.

Kultur in Ö dient der Verdrängung und Verharmlosung. Für diese neurotische Nation sind Realitäten und Konflikte nicht ertragbar. Geschichtliche Erfahrungen werden nicht verarbeitet, sondern verdrängt und vergessen. Angst vor Aufklärung, vom Anschluß bis zu Exminister Herrn A., herrscht in der 2. Republik. Weil keine Lösung der Konflikte möglich ist, außer durch den Tod, wird der Tod (aus Schwäche) ersehnt und besungen. Vom Sezessionismus über den Heurigen bis zum Dialektrock schwärmt uns ein jämmerliches pueriles Pathos der Todessucht entgegen – Nekrophilie aus Verdrängung, Vergewaltigte einer unbewältigten Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft, die Gewalt nur weiterleiten. Die Kunst in Ö dient dieser Gewalt, indem sie Tod und Vergessen verklärt. So wird die Kunst selbst zu einer Form der Gewalt und Unterdrückung.

"Glücklich ist, wer vergißt": was will vergessen? Metternich, die Verbrechen im Vielvölkerstaat, den Untergang der Monarchie, Hitler, Österreichs großen Sohn? Ich sterbe – alle sollen sterben, denn der Tod ist schön": aus dem eigenen Untergang wird der Befehl zum Untergang aller, aus Wehleidigkeit und Todesseligkeit werden die Diktatur der Lebensvereinigung. Heurigensentimentalität und Lust-am-Untergangs-Kunst schlagen um in nackte Gewalt. Eine untergehende Klasse, Gesellschaft, Nation wünscht sich wieder einmal den Untergang aller. Doch der Untergang einer Weltanschauung bedeutet nicht den Untergang der Welt. Moral ist immer die Moral einer absterbenden Gesellschaft. Das Opfer der Apokalypse macht sich selbst zum apokalyptischen Reiter und bringt Tod und Verderben. Nekrophilie hat in sich den Keim der Gewalt und des Totalitarismus. Der Diktator ist der personifizierte Ausdruck der Todessucht.

Kunst, die auf Atavismen, tiefe Gefühlsschichten, unmittelbare sinnliche Reize zurückgreift, ist als Reaktion auf die Technologie verständlich. Wird die Kunst aber dadurch, daß sie eine Insel der Erinnerung, der Rudimente vergangener Daseinsformen bleibt, nicht selbst eine einseitige, eindimensionale, rückschrittliche und nach hinten blickende Gegenwelt? Stellen Sie sich selbst nicht dadurch außerhalb der Zeit, annulliert damit Ihre utopische Funktion, Ihre Provokation in und an der Zeit? Reduziert sich auf Entertainment, Sinneskitzel.

Ritual ist der Kitsch von morgen.

Aller Ländereien verlustig, blieb Österreich nur mehr das "weite Land" der Seele. Die Geburt der Psychokunst war das Ergebnis dieser sozialen und politischen Verluste, aber nicht in Formen des Widerstands oder der Überwindung, sondern als Anpassung und Kapitulation. Die geschädigte Nation wird zu einem Volk der Selbstbeschädigung. Die Idee einer österreichischen Nationalität wird angesichts seiner wirtschaftlichen, geistigen und sozialen Abhängigkeit (z.B. von Deutschland) zu einer Lüge. Psychokunst wird zum devoten Ornament der Anpassung des Verbrechens, der Lüge und Kapitulation. Diese aus der Jahrhundertwende kommende Tendenz zur Neurotisierung als irrationaler Ausdruck einer Nation, die den realen Verlust ihrer weltpolitischen Rolle, die Reduktion eines mächtigen Vielvölkerstaates auf einen ohnmächtigen Kleinstaat nicht ertragen und bewältigen kann, verstärkt aber nur den Weg zur Reduktion. Der Rückblick auf die vergangene Glorie verkauft die Zukunft. Aus Angst vor der Zukunft bzw. im Gefühl, keine Zukunft zu haben, blickt Ö unentwegt zurück. Der Blick zurück, und Kunst, welche diesen Blick belebt, werden vom Feuilleton kultisch hochgejubelt, weil sie auf infantile Weise Sicherheit geben. Man schraubt uns ständig auf die Jahrhundertwende und auf die Infans-Kunst zurück. Eine widerwärtige nekrophile Nostalgie mästet unter dem Beifall einer korrupten Presse mit erpreßten Millionen die Mumien der Vergangenheit. Ich bin der Meinung, man gebe ihnen allesamt einen Tritt, damit sie die Hintertreppe der Geschichte endgültig hinunterfallen. Offensichtlich gibt es nun mehrere Nationen, deren Götterdämmerung begonnen hat und die ihr Ende nahen fühlen, deshalb starren sie wie gebannt auf das Wien der Jahrhundertwende, ohne es zu kennen. Denn die Bilder, die uns von Wiens Jahrhundertwende geliefert werden, sind gefälscht. Österreichs Kultur kannte auch Momente der Meuterei, der Analyse, der Anklage, der Auflehnung. In einem Polizeistaat, der von 1846 bis heute (1984) andauert, hat es zwar keine politische Rebellion gegeben, doch etliche geistige.

Mein Stück blickt mit äußerster Entschlossenheit nach vorne, gibt Ö eine Zukunft, formt das Österreich der Zukunft. Mein Stück hat allerdings gegenüber Salzburg den enormen Nachteil, mehr zur Diskussion zu bieten als den Brustumfang der wechselnden Hauptdarstellerinnen. Aber ich bin mutig genug zu hoffen, Österreichs Kulturrichter und Nimmerrichter werden es mir vergeben. In einem Land, wo der gute Ton sich reimt auf Korruption, wird mein Stück allerdings ein Mißklang sein. Man wird zugeben, daß es in einem Land der subalternen Todespathetik, der theatralischen Rituale des Vergessens und Verdrängens, der versteinerten Machtverhältnisse und kaschierten Grausamkeit, schwerfällt, zu sein, vor allem Vision zu sein.

DIE LUFT DER ZUKUNFT

Die Video-Oper "Der künstliche Wille" blickt nicht zurück auf die Jahrhundertwende, sondern vorwärts auf die Schwelle zum dritten Jahrtausend. Mit dieser Video-Oper verlassen wir das 20. Jahrhundert. Ein Jahrhundert, das sich fortschrittlich dünkt und in Wahrheit das grausamste aller Zeiten war, mit seinen zwei Weltkriegen, deren letzter ganze Rassen und Nationen auslöschte, und in dem zum ersten Male in der Geschichte die Selbstvernichtung der Menschheit durch die atomare Aufrüstung technisch möglich ist. Nach der Beseitigung ganzer Völker stünde in logischer Konsequenz des Programmes des 20. Jahrhunderts für das 21. Jahrhundert die Auslöschung der gesamten Menschheit bevor. Darum gilt es, sich vom 20. Jahrhundert zu befreien, das durch Wahnideologien wie Faschismus und Stalinismus gekennzeichnet ist. Darum gilt es, die Voraussetzungen dieser Ideologien zu erkennen und zu bekämpfen, die Tendenzen der Lebens- und Selbstvernichtung. Denn noch immer beherrschen Abkömmlinge jenes politischen Denkens, das Kontinente verheert, Nationen vernichtet hat, dessen Scheitern aber in Schutt und Asche noch immer nicht konsequent zur Kenntnis genommen worden ist, unser soziales Leben. Der Holocaust der Juden galt eigentlich dem Fortschritt des 20. Jahrhunderts selbst. Mit der Auslöschung der Juden und der "jüdisch-bolschewistischen" Kultur hat die Reaktion versucht, die Ankunft des 21. Jahrhunderts abzuwehren. Das 20. Jahrhundert war insoferne das Jahrhundert der Juden, von Einstein bis Schoenberg, als die Reaktion durch ihre Vernichtung die Keime des 3. Jahrtausends vergasen wollte. Doch das Programm der Reaktion hat sich weltgeschichtlich nicht durchgesetzt, es wird mit dem 20. Jahrhundert begraben, samt seinen restaurativen Kulturformen.

Die Luft der Zukunft wird atemlos wie Geld sein, wenn wir weiterhin den Klischees der Kultur, der Konventionen des Verhaltens, den Mechanismen der alten Denkweisen folgen. Nur wenn alles in neuen Bahnen läuft, wird der Mensch weder wie Maschinen noch in (Schutz)Masken leben müssen, sondern wird die Menschwerdung vorangetrieben.

AUDIOVISUELLES ALFABET AVA

Die elektronische Ästhetik ist ein Vorschein auf die künftige Welt. Bei der Befreiung vom 20. Jahrhundert werden uns neue Kunst- und Sprachformen, neue Ausdrucksmedien unterstützen, wobei in einer Art Verteidigung der Moderne insbesondere deren futuristischen Impulse um die Jahrhundertwende in Rußland und in Mitteleuropa rekursiv aufgegriffen werden.

Denn schon damals waren viele Künstler in verschiedenen Kunstbereichen gleichzeitig tätig: Dichter und Maler, Dichter und Musiker, Maler und Musiker. In gesamtkunstwerklichen Tendenzen wurde versucht, die drei Medien Musik, Malerei, Sprache synästhetisch zu verbinden. Doch heute ist es durch die technischen Medien möglich, diese synästhetische Basis zu überwinden und die 3 Elemente zu einer neuen Einheit zu verschmelzen: AVA.

Im audiovisuellen Alfabet (AVA) ergänzen einander die diachronen Elemente der Sprache, des Bildes und der Musik. Jedes dieser Elemente ist in seiner ästhetischen und inhaltlichen Funktion von den anderen abhängig, weil die Sprache und das Bild und die Musik jede/s für sich allein nicht alles sagen kann. Jedes dieser Elemente braucht die zwei anderen, weil sie nur zu dritt einen Sinn konstituieren, eine andere Art von Sinn. Denn dieser Sinn ist nun nicht mehr linear und eindimensional, sondern mehrdimensional. In der optimalen Vereinigung erhält die Information jedes der drei Medien einen neuen Sinn und schafft einen neuen Sinn.

Diese neue Sprache des audiovisuellen Alfabets ist die eigentliche Sprache der elektronischen Medien, die Sprache der Zukunft, die Sprache der künftigen elektronischen Welt. Denn bei den elektronischen Medien lautet die gemeinsame Basis nicht Synästhesie, sondern Digitalität. Digitales Bild, digitaler Klang – auf der Basis einer gemeinsamen numerischen Elektronik werden semantische Analogien, Konversionen, Widersprüche, Relativierungen entfaltet. Die Informationsgesellschaft der Zukunft, wo in jedem Haushalt Computerterminals, Personalcomputer neben Video- und Audio-Anlagen vorhanden sein werden, wird sich mittels des neuen audiovisuellen Alfabets informieren, das mehrdimensional und mehrstrukturiert ist. Das erste Kunstwerk dieser neuen Epoche ist die elektronische Medienoper "Der künstliche Wille".

Da es in der neuen Sprache AVA keine lineare Verengung der Bilder und Worte gibt, sondern aufgrund der Mehrdimensionalität der Diskurs der Ratio selbst Irrationalitäten und Triebmomente erzeugt, bedeutet AVA die Loslösung und Öffnung der Sprache vom Logos, vom Buchstaben des Gesetzes. Nicht nur die Bilder und Worte erhalten ihr Recht auf Selbständigkeit, so daß neue Bilder, Worte, Welten erschaffen werden können, sondern der Rezipient erhält das Recht auf selbständige individuelle Interpretation. Die Mittel zum Ausdruck humaner Momente werden erweitert. Doch das mehr Bits an Informationen stellt auch den Rezipienten vor mehr Alternativen und Entscheidungen. Die Mehrdimensionalität der neuen elektronischen Sprache AVA verlangt vom Rezipienten eine neue, direkte, selbsterarbeitete, unmittelbare Rezeptionstiefe, die erst erlernt werden muß. Dadurch aber erhält das Individuum erst seinen Raum. Der größere Interpretationsraum in der Sprache AVA macht sie zu einem Medium größerer Individualität und damit zum Vorzeichen der größeren Individualitätsmöglichkeiten in der elektronischen Welt. AVA bedingt ein erweitertes Verstehen, ein Denken in Netzen und mehrpoligen Zusammenhängen, in Kausalschleifen und nomadischen Zeichen. AVA trainiert den Denk- und Empfindungsapparat auf multifunktionale Korrelationen, wie sie für das Erleben und Überleben im 21. Jahrhundert notwendig und entscheidend sind. Nur taube und blinde Menschen, die in der Finsternis vergangener Epochen und Kunstformen sitzen, können das Licht der neuen Sprache nicht erleben. Eine neue Sprache, für eine neue Psychologie, für neue Modelle des Menschen, furchtlos!

ELEKTRONISCHE NARRATION

In der Sprache der elektronischen Medien zerstiebt das Imaginäre das Reale. Wir erleben den Morgen und Abend gleichzeitig: den einen real, den anderen im TV. Wir hören verschiedene Geräusche gleichzeitig, diejenigen der natürlichen Umwelt, Orchestermusik aus dem Radio. Zeitversetzung und Gleichzeitigkeit werden zum Alltag. Wir sind in Rom und in Wien: einmal live im TV, einmal real. Ortsgleichheit, Ubiquität wird zur Routine. All diese Verschiebungen von Raum und Zeit in den Medien, die Einführung neuer Begriffe von Ort und Gegenwart, von Transformation, von Synthetik, von Digitalisierung der Form und Dynamik der Gegenstände, von Imaginär und Real, access statt excess – bedeuten: das Bewußtsein wird neu codiert. Den neuen Code leistet AVA. Die elektronische Narration, die aus Elementen von AVA aufgebaut wird, schafft Mythogramme in einer industriellen Ästhetik, welche Felszeichnungen und Bildschirm versöhnt. Die semiotische Sprachlichkeit der elektronischen Narration, die ja aufgrund der ungeheuren Möglichkeiten der digitalen Manipulation von Bild, Ton und Wort den Zeichencharakter der Dinge in viel größerem Maße forciert als die traditionellen Medien, erhöht den nomadischen und energetischen Charakter der Dinge (als Zeichen) und damit des Lebensgefühls, typisch für das elektronische Paläolithikum.

Welches Wesen hätte vor Jahrtausenden gedacht, geahnt, gefühlt, und wenn es gedacht hätte, wäre ihm die Aufgabe unendlich unlösbar erschienen, daß es möglich sein wird, mit nur 26 Buchstaben und zugeordneten Lauten eine riesige Kultur an Ideen, Gedanken, Gefühlen, Werkzeugen zu schaffen? Doch das gesamte Ausdruckspotential der Menschheit ist nicht umfangsgleich mit dem Alphabet und dem Graphismus, sosehr auch eine reaktionäre Brut auf allen Ebenen der Gesellschaft dies brutal behauptet und die Weiterentwicklung der Ausdruckskraft und -mittel des Menschen mit allen Machtmitteln der Institutionen bekämpft. Der reaktionäre Obskurantismus gegenüber der Medienkunst macht sich an den Verbrechen des 20. Jahrhunderts mitschuldig. Doch das Herz der Evolution schlägt weiter, weitere Jahrtausende stehen uns bevor, in denen sich die audiovisuelle Sprache der elektronischen Medien entfalten wird.

OPER

Warum dann "Oper" in Zusammenhang mit "elektronischen Medien"? Weil Oper im klassischen und historischen Sinn jene Einheit von Bild/Malerei zum einen, von Wort/Literatur zum anderen und von Gesang/Musik zum dritten darstellt, um die es uns ja im audiovisuellen Alfabet geht. Nur ist die Oper als Kunstform unterhalb der Schwelle des 20. Jahrhunderts geblieben. Der in historisierenden Gewändern vor Kulissen agierende Sänger täuscht eine historische Wirklichkeit vor auf dem Niveau infantilen Marionettentheaters. Die Oper steht noch immer im Bann einer naiven Gegenständlichkeit und Illusionsrealität, die alle Errungenschaften der Kunst seit dem Aufstand der Abstrakten mißachtet. Die Bühne schminkt sich als Grotte, der Sänger als Handwerker oder Graf und die Maschinerie des bürgerlichen Illusionstheaters beginnt zu laufen.

Doch im Zeitalter der elektronischen Medien sind Gesang und Musik nicht mehr an die Wiedergabe durch Sänger und Orchester gebunden, sie können sich auch als Playback künstlich und maschinell ereignen. Realer Gesang live auf der Bühne und maschinelle Wiedergabe gespeicherter Musik können einander ergänzen ebenso wie reale Bilder der Bühne und die maschinelle Zuspielung gespeicherter Bilder von außen. Gesang und Sänger sind voneinander trennbar wie die Bilder und Töne. Somit können aber die Bilder und Töne, die realen Bühnenbilder und die elektronischen Bilder, die realen Ereignisse auf der Bühne und die Ereignisse auf dem elektronischen Bildschirm neu gemischt und in Beziehung gesetzt werden. Darum ist es angebracht, von einer nicht-klassischen Oper zu sprechen, welche die naiv vorgetäuschte Einheit von Raum, Zeit und Handlung verläßt und durch den Einsatz neuer Technologien formalspezifische Möglichkeiten von Gleich-, Neben- und Un-Zeiten, von räumlicher Mehrdeutigkeit und akustischer Nebendeutigkeit nützt. Eine leicht verständliche Idee ist dabei, daß in einer klassischen Oper aufgrund der Schwerfälligkeit der Kulissen vielleicht sechsmal das Bühnenbild wechselt, hingegen die elektronische Leinwand Hunderte Bühnenbilder in schneller Assoziationsabfolge zum Geschehen auf der Bühne in Bezug setzen kann. Wenn auch dann das Deutungspotential der elektronischen Narration nicht in jedem Falle sofort auslotbar ist, werden die formalen Überraschungsmomente der elektronischen Mal-, Zeichen- und Musiktechniken vielleicht doch zu einem weniger eingeschränkten Erlebnis führen als dies die Clichées der traditionellen Formen vermögen. Doch wie soll man eine so ambitionierte nicht-klassische Oper realisieren können, wenn das gesamte Produktionsbudget in etwa so viel ausmacht wie die Abendgage eines Sängerstars bei einer klassischen Oper?

Elektrische Krieger des Gefühls. Wunden, aus denen das Licht kommt. Computerprogramme sind elektrische Farbpinsel Licht ist das Medium des Fortschritts.

Das Weltall ist ein Riesenbildschirm, aber dennoch kein Videospiel. Deswegen frage ich: wer spielt Golf mit den Sternen? Das elektronische Laufbild der Sterne signalisiert uns die Antwort. Ist die Erde eine Farbschüssel im schwarzweißen Nachtgemälde des Himmels?

Die Bühne selbst ist gekennzeichnet durch eine scheinbare Gleichheit der Zeit und Ungleichheit des Raumes. Simultaneität und Ubiquität sind Eigenschaften der elektronischen Narration. Dieses Stück sagt weder "s/he says" noch berichtet es von ägyptischen Königen oder galaktischen Kriegen. Dieses Stück töpfert nicht Stahl digital, haut also aufgewärmte Erzählmuster nicht noch einmal in die Kulturmaschine. Dieses Stück stellt ein neues Erzählmodell vor: die elektronische Narration. Statt Sinn Spezialeffekte, statt Erklärung Entertainment, statt Verstehen Überraschung – ein Ideendrama. Die erzählerischen Schwächen der europäischen Stoffe (politischer Verrat, Eifersucht, Passion, Tyrannenmord etc.), die Hollywood als verlängerter Arm der Klassik bis in alle interstellare Ewigkeit transportieren möchte, finden durch die neue elektronische Erzählform ein Ende mit Schrecken. Die Erzählung wird geschlachtet. Uneingeschränktes Erlebnis heißt das neue Jagdziel.

AUFSTAND DER ELEMENTE

"Die Lesbarkeit der Welt" wird durch die audiovisuelle Sprache der elektronischen Medien eine andere werden. Ja, die Digitalisierung des Drucks wird auch das traditionelle Medium des Buches an die elektronische Narration angleichen. Diese neue Lesbarkeit der Welt wurde auf dem Gebiet der Oper um die Jahrhundertwende schon auf nicht-klassische Weise unternommen: Arnold Schoenbergs Drama mit Musik "Die glückliche Hand" (1911–13), wo der Maler und Musiker Schoenberg "mit den Mitteln der Bühne musizieren" wollte und daher vor allem auf "das Farben-Licht-Spiel" wert legte. ("Es muß einleuchten, daß Gesten, Farben und Licht hier ähnlich behandelt werden wie sonst Töne: daß mit ihnen Musik gemacht wird.") Wassily Kandinskys Bühnenkomposition "Der Gelbe Klang" (1909/1912), deren musikalischen Teil Thomas von Hartmann übernommen hat. Hartmann war ein Verwandter des berühmten Philosophen Eduard von Hartmann (Philosophie des Unbewußten), veröffentlichte in "Der Blaue Reiter" (München 1912) "Über Anarchie in der Musik" und wurde später Mitglied des Kreises um G. I. Gurdjieff, mit dem er in den zwanziger Jahren in Kollaboration Pianostücke schuf, die in ihrer Synthese von orientalisch melodischem Material und europäischer Phrasenstruktur die Minimalmusik vorwegnahm. Kandinsky geht bewußt von den drei Elementen "Klang, Farbe, Wort" aus: "1. musikalischer Ton und seine Bewegung, 2. körperlich-seelischer Klang und seine Bewegung durch Menschen und Gegenstände ausgedrückt, 3. farbiger Ton und seine Bewegung. Alle drei Elemente spielen eine gleich wichtige Rolle, bleiben äußerlich selbständig und werden gleich behandelt." Einen "Aufstand der Farben und Geräusche" (Krutschonych) war auch die Oper in 2 Akten und 6 Bildern "Sieg über die Sonne" (1913) des Dichters Alexej Krutschonych, des Malers K. S. Malewitsch und des Musikers M. W. Matjuschin, welche "den Sieg der Technik über die kosmischen Kräfte und über den Biologismus" (Krutschonych) zum Thema hatte.

Neben den vielen futuristischen und dadaistischen Spektakeln sei besonders das Ballett "Relâche" (1924) erwähnt, nach einem Szenario des Dichters Blaise Cendrars, des Musikers Eric Satie, Bühnenbild Francis Picabia, wozu dieser auch mit René Clair den Film "Entr-acte" (mit Man Ray, Marcel Duchamp, Antonin Artaud, Darius Milhaud etc.) drehte.

KÜNSTLICH

"Der künstliche Wille" ist die Geschichte von der Entstehung der Künstlichkeit seit der Entdeckung der Elektrizität. Die Glühbirne ist die neue menschliche Sonne. Es werde Licht, sagt nun nicht mehr Gott, sondern der Mensch selbst. Es wird Licht, wann der Mensch es will und nicht die Natur. Diese Medienoper handelt von den Auswirkungen des "Sieges über die Sonne" im 19. Jahrhundert, von den Verformungen der westlichen Kultur durch die Geburt der Elektrizität in Europa. Amerika und Japan sind die Kinder dieser europäischen Geburt. Die Entwicklung und Formulierung der elektromagnetischen Lichttheorie, der Äquivaleinz von Arbeit und Wärme, des Energieerhaltungssatzes und der Entropie durch J. C. Maxwell, J. R. Mayer, H. v. Heimatlos, R. J. E. Clausius, L. Boltzmann und andere in der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt dem Menschen zum ersten Male eine klare Vorstellung von der Arbeitskraft, welche die Natur dem Menschen zur Verfügung stellt. Die Umwandlung der Energie liefert erstmals das Modell dafür, in welchem Ausmaß der Mensch durch die Beherrschung der Naturkräfte die Gestaltung der Welt in seine Hände nehmen kann. Nicht von ungefähr wurde daher diese Epoche eingeleitet von einem Werk, welches "die Welt als Wille und Vorstellung" (Schopenhauer 1819) formulierte. Kant hatte schon in seiner "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) für die unorganische Welt ausgerufen. "Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen", doch im allgemeinen hielten die Philosophen an einem unbewußten veralbsolutierten "Willen an sich" (Schopenhauer) oder an Gott als Weltenbauer fest. "Das Weltganze erscheint uns als das Werk eines mächtigen, unendlichen Willens, dessen Kraftäußerung eine konstante ist. Dieser mächtige Wille ist der Urgrund für Materie und Geist, die Naturgesetze sind seine Gesetze."
(Wilhelm Jerusalem, Einleitung in die Philosophie, 1899.)

Das Primat des Willens bei der Gestaltung der Welt wird zwar erkannt, aber mit dem absoluten Willen Gottes gleichgesetzt. Es wird noch nicht gewagt, im Gefolge Kants den menschlichen Willen, welcher verglichen mit Gottes Willen ein künstlicher ist, als Weltgestalter zu akzeptieren. Erst die Erfolge der Technik und der Wissenschaft, weiche die Naturgesetze, auch wenn sie "seine Gesetze" waren, uns zur freien Verfügung stellten, setzten die Erkenntnismöglichkeit frei, daß die Naturgesetze unsere sind und machten die Welt nach unserem Willen formbar. Die Entdeckung des Energiebegriffes und des künstlichen menschlichen Willens korrelieren also.

Die Ersetzung der Sonne durch künstliches Licht, die Überwindung der Nacht durch die Erfindung der Elektrizität sind der prometheische Einbruch der Künstlichkeit in eine vorgefundene Naturordnung.

Die Gestaltung der "Welt als Wille und Vorstellung" – des Menschen wurde erstmals vorstellbar. Das künstliche, menschengemachte elektrische Licht konkurrenzierte mit der bislang einzigen Energiequelle, der Sonne und den Sternen. Mit der Glühbirne haben wir also die Sterne eingefangen, und die eigentliche Farbe des elektrischen Lichtes ist grün. Denn mit ihm wurde erstmals die Frage nach der Energie gestellt, nach ihrem Vorhandensein, nach ihrer Unendlichkeit, nach ihrer Begründung. Eine tragende Rolle als großartiger Tragikomiker hat in diesem Stück also auch der zweite Hauptsatz der Wärmelehre inne. Denn es handelt von Energieverfall und Zeit. Ist der grüne Stern des elektrischen Lichtes künstlich und vom Menschen gemacht, dann erhebt sich die Frage, wer hat die anderen Sterne gemacht und sind sie nicht auch künstlich?

"Wir dürfen den Willen, die Peitsche mit eigener Hand über uns schwingen."

Franz Kafka, 1916

Wer ist es, der "ich" sagt, wenn ich sage: ich will. Was ist es, das "ich" sagt, wenn ich sage: ich will. Was ist "mein", wenn ich sage: mein Wille geschehe.

Es ist nicht die Frage, ob es einen freien Willen gibt, sondern die Frage lautet, gibt es einen menschlichen Willen?

"Das Verantwortungsgefühl ist im letzten Grunde Beamtengeist, Knabenhaftigkeit, vom Vater her gebrochener Wille"

Kafka, 1916

Sind wir Menschen Beamte des Universums, ist der Mensch der von Gott Vater her gebrochene Wille?

Der Mensch – Produkt der Erziehung und Gesellschaft? Der Mensch als Wille der Gene, als Wille der Natur? Als Produkt und Wille seiner selbst? Man muß einen künstlichen Willen schaffen, um "Ich" sagen zu können. Man muß sich einen künstlichen Willen schaffen, dessen Tätigkeit und Ergebnis ist das Ich. "Das Ich ist unrettbar", schrieb Ernst Mach, der Physiker, um 1900. Weil er das Ich für natürlich hielt, sage ich. Doch das Ich ist so künstlich wie der Wille und der Wille so künstlich wie ich. Wäre der Wille blind, dumpf, unbewußt und ziellos, gäbe es Grund zu Schopies Pessimismus, doch der Wille kommt nicht allein aus der Triebstruktur, sondern ist gerichtet, selbstreflexiv, tendenziell wie ein selbstkorrigierender Automat, das Missile in uns. Spontaneität als Surplus des Automaten. Jedes Ich ist geschaffen, es kommt nur darauf an, von wem. Von Gott, von den Andern, von Dir? Das Ich ist rettbar, weil es künstlich ist, sagt der elektronische Messias.

Der Mensch als der gebrochene Wille Gottes – diese Äonen sind vorbei. Der Mensch erobert das Licht und die Zeit. Sprach Gott einst: Es werde Licht, sagt es heute die Hausfrau und knipst mit dem Schalter das Licht an. Elektrizität ist eine künstliche Form des Lichts. Elektrizität ist die menschliche Form des Lichts. Elektronik ist der künstliche Wille. Elektronik ist der Wille des Menschen. Der künstliche Wille des Menschen erobert das All. Mit dem künstlichen Willen wird der Mensch ein Souverän, wird der Mensch Gott. Er erschafft sich die Welt nach seinem Bilde. Das Ende der Geschichte als Beginn des künstlichen Willens. Die menschliche Weit ist künstlich.

Alles, was dem Menschen begegnet, wird in Zukunft von ihm selbst gemacht sein.

Der Planet Erde ist unser aller Arche Noah. Noah war es, der die Arche selbst gebastelt hat, und nicht Gott. Die Arche war also menschengemacht und künstlich. Man darf auch absolut nicht vergessen, daß Noah die Pflanzen und Tiere mitgenommen hat, also ökologisch dachte. Wir sind nun Noah und die Erde unser Schiff. Auch wir müssen selbst die Erde so zurecht basteln, auf menschengemachte künstliche und ökologische Weise, damit wir auf ihr im Weltall überleben. Wir sind die Steuermänner des Raumschiffs Erde auf seiner Reise durch die Zeit, Wir haben die Verantwortung und nicht Gott.

Die Geschichte des Menschen ist an jenem Punkt angelangt, wo der Wille des Menschen sich der Umfangsgleichheit mit dem Universum nähert. Er kann sich auslöschen – das ist der Triumph des Willens. Er kann erschaffen – das ist die Geburt des Willens.

Mein Wille: es werde Licht.
Mein Wille werde Licht.
Mein Wille werde.
Mein Wille will.
Der gewollte Wille.
Der künstliche Wille.

Was ist der künstliche Wille des Himmels? Der Sinn der Geschichte ist der künstliche Wille. Der Sinn der Geschichte ist die fortschreitende Individuation. Der Sinn der Geschichte ist die künstliche Sonne. Der Sinn der Geschichte ist der künstliche Gott. Der Mensch ist der künstliche Gott, der absolute Wille.

Der elektronische Messias sagt: Mein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.

STILWILLE – LEBENSWILLE

Der künstliche Wille ist auch ein Stilwille. Der Wille zu einem neuen Stil ist ein Wille zu einer neuen Welt. Der Stilwille ist keine bloß ästhetische Operation, ein Verwandeln formaler Elemente, sondern eine ontologische Strategie.

Ein mehrdimensionaler Stil für ein mehrdimensionales Leben. Statt Ein-Richtungs-Gegenstände wollen wir Mehr-Richtungs-Gegenstände, Fürstände, Umstände. Ein Leben in mehreren Richtungen: Allzweckmöbel und Alleben.

Viele Menschen leben heute Teile ihres Lebens nur heimlich und unter dem Zwang der Lüge. In der neuen Welt wird die Morphologie des vielgestaltigen Begehrens nicht nur die Gestalt eines Lebens annehmen, sondern mehrerer. Jeder wird das Leben eines Stars führen. Provisorische Lebensstile in einer Kulissenwelt. Leben als Kulisse. Jobwechsel, häufiger Partnertausch, neue Partnerschaftsformen – nicht mehr unter dem Banner der Angst, des Drucks, des schlechten Gewissens, um den Preis großer Verluste, sondern frei. Ein mehrdimensionaler Stil für ein mehrfaches Leben, In der Welt des audiovisuellen Alfabets wird nicht nur die Ausdruckskraft maximiert, sondern untrennbar verbunden auch die Lebenskraft und -form. Ausleben sagt man in einer Periode des Zwangs. Volleben ist der neue Stilwille als Lebenswille. Der Mensch wird mehrere Leben gleichzeitig und nacheinander leben, jedoch nicht als Metaphysik ewiger Wiederkehr (diese war ja nur die Ahnung kommender Möglichkeiten), sondern real auf dieser Erde, in der Welt des künstlichen Willens, einer Weit, die von der Kosmetik bis zum Kosmos reicht.

Der Zugang zur Welt wird durch die Hochtechnologie persönlicher. Ich erhebe den Anspruch, ich beanspruche mein Recht, das Monopol des Staates auf Wirklichkeitsgestaltung und -darstellung in Frage zu stellen und außer Kraft zu setzen. Als Souverän meines künstlichen Willens behaupte ich meine individuelle Wirklichkeitsdarstellung und -gestaltung.

Auf den Aufstand der Farben und Geräusche, auf die Unabhängigkeitserklärung der Formen und Farben vom Gegenstand um die Jahrhundertwende folgt der Aufstand und die Unabhängigkeitsdeklaration des Individuums von der Gesellschaft für die kommende Jahrhundertwende. Der Tyrannei des Tafelbildes entlaufen die bewegten Bilder – der Kommerzialisierung der gesamten Lebenssphäre widerläuft die Destrukturierung und Dekonditionierung des Menschen (z.B. in der elektronischen Narration). Der Mensch beutet nun die Technik ebenso skrupellos aus wie früher die Natur, Kontinente und andere Nationen. Die Industrie ist der räuberische Usurpator der Technologie. Blutige Umwälzungen werden den usurpatorischen Gebrauch der Technik im 20. Jahrhundert beenden. Die Apostel des Natürlichen und Gesunden – haben nicht sie gerade im 20. Jahrhundert stets die totale Vernichtung gebracht? Im Namen des Gesunden und Natürlichen die widernatürlichsten Verbrechen begangen? Ihr Primat war die Erhaltung der Art und deswegen schlugen sie das aus der Art Geschlagene und hatten Angst vor den Ent-Arteten, doch um der Erhaltung der Art willen, wollten sie alle anderen Arten vernichten und wurden selbst zu Ent-Arteten. Wer unwertes Leben kennt, liebt das Leben an sich nicht, sondern den Tod. Wollt ihr die totale Elektronik? Capture my heart, computer! Elektronik wird das Herz des 21. Jahrhunderts sein. "'Der künstliche Wille' ist eine wild style Videooperette über Ökologie, Spaß, Politik, Evolution, Europa, Energie (die heiligen drei E), Universum, Sex, Haushalt. Natur, Technik und Sport."

SZENEN MODALER WELTEN

Die (künftige) Welt als Artefakt. Der Mensch transformiert die Natur. Die Exteriorisierung der natürlichen Organe und Funktionen in die Technik wird ungeheuer expandieren: extreme Amplifikationen, Überwindungen von Distanzen in Raum und Zeit, Verstärkungen von Geschwindigkeit und Reichweite. Fernsehen, Radio, Lautsprecher, Auto, Flugzeug etc. sind Exteriorisierungen des menschlichen Leibes (Auge, Ohr, Stimme, Beine etc.), die via Satellitenfernsehen und Raumstationen sogar zu Exteriorisierungen der Erde werden.

Auch die nährende Hülle des Fötus wird künftig aus dem Leib der Mutter exteriorisiert: die künstliche Placenta, die sich außerhalb des Mutterleibes befindet. Künstliche Befruchtung und künstliche Placenta befreien die Frau von der Schwangerschaft. Die biologische Reduktion der Frau und ihre darauf aufgebaute soziale Rolle, ihre jahrtausendealte Mythologie als Gebärende und Mutter wird damit endlich und endgültig zusammenbrechen. Begriffe wie "Prägung" werden nur mehr im Naturreich gültig sein. Der exploitative Biologismus wird beseitigt, ersetzt durch Technik. Die Frau als bloß biologisches Wesen hebt sich auf – ein Axiom unserer Kultur fällt. Die Idee eines künstlich erzeugten Lebens und einer künstlichen Geburt rückt näher.

Intelligenz und Gedächtnis werden amplifiziert und exteriorisiert: Künstliche Intelligenz der Computer.

Computerdateien als aktive Bibliotheken, als Expansion des Gedächtnisses. Rechnungen finden nicht mehr in unserem Kopf statt, ebensowenig räumliche Darstellungen von Objekten, sondern in "Elektronengehirnen", "denkenden Maschinen" und auf Bildschirmen. Computerprogramme als exteriorisierte Nervensysteme, Gene, Enzyme, Neurotransmitter. Die Rechenmaschinen und deren Algorithmen als Vorstufen "künstlichen Denkens". Die künstlich bewegten Bilder der Computeranimation als "künstliches Zeichnen". Künstliche Hand, künstliches Herz, künstlicher Kopf.

TV, Schallplatte und Kino als Maschinen für künstlich erzeugte Gefühle. Man wirft eine Pille ein für künstliche Halluzinationen, man wirft eine Videokassette ein für künstlich erzeugte Emotionen (Angst, Spannung, Lachen etc.). Industrielles Leben – Leben als Industrie: vom computerunterstützten Design bis zum plasmagestützten Gewebe. Der künstliche Busen steht schon in jeder Zeitung und an jeder Straßenecke. Sogar das scheinbar Unmittelbarste und Natürlichste, die Sexualität, wird von dieser Künstlichkeit überformt. Auch Begierde, Wunsch und Eros werden künstlich. Wunderbare Beispiele der Mediensexualität in Film und Fotografie bezeugen jetzt schon die strahlende Entwicklung des künstlichen (polymorph-perversen) Sexus. Wir werden ihn um weitere Beispiele bereichern.

Gitarrenverstärker als Gefühlsverstärker. Lautstärke als Stimulation. Elektrische Krieger des Gefühls. Die E-Gitarre als Symbol der E-Gesellschaft. Der Mythos der Elektrogitarre löst das Klavier als Metapher ab – der Wandel der Kultur. Der Synthesizer symbolisiert die Ankunft einer neuen demokratischen Renaissance. Die Oper, geboren um 1600, ist ein Kind der Renaissance – deswegen skizziere ich jetzt die kommende demokratische Renaissance, wo durch den persönlichen Zugang (access) zu in Personalcomputern implementierten Programmen von Musik, Grafik, Sprache im Prinzip jeder Mensch auf den vereinigten klassischen Kunstformen spielen kann wie ein Renaissancekünstler, durch eine elektronische Medienoper.

Die drei Dimensionen der Oper sind beim audiovisuellen Alfabet schon im einzelnen Element enthalten. Bilden Musik, Bild, Sprache als Ganzes eine Oper, wobei die Medien autonom bleiben, ist dieses Ganze schon in jedem einzelnen Element des AVA (im Keime) vorhanden.

Rückzug der menschlichen Ernährung von den Pflanzen und Tieren: künstliche Ernährung.

Gesellschaftliche Institutionen und die techno-ökonomische Entwicklung hängen voneinander ab. Gesellschaft als Technologie, Technik ersetzt Staat. Die Technik befreit (von Natur und Staat) – wir werden uns aber von der Technik befreien müssen. Ende des Konsumerismus.

Künstliche Paradiese als Folge des Willens zur Künstlichkeit. Das ist das geheime Ziel der Infantilgesellschaft, gezähmt von der Parteiendemokratie.

Schauspieler werden zu Politikern, Moral wird zu Mode, Musik zu Pillen. Der gute Ton der Korruption.

Die Sprache des Erfolgs: Design statt Sein. Der Wert der Wahrheit als Showelement sinkt. Psychokosmetik und Verkaufstrategien bestimmen Massenmedien und Schaupolitik. Scheinwerfer werden Profile gestalten, farbige Neonlinien statt Lebensläufen. Eine postmoderne Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit. Europa wird die Form eines Bildschirms annehmen und Monokultur aufweisen, d.h. TV-Kultur.

In dieser Welt der Simulationen wird der Tod als E. T. erscheinen, hilflos, freundlich, gutgesinnt und selbst sterblich. Der Tod als das letzte Natürliche (nicht vom Menschen änderbare) wird als Extra-Terrestrialer aus dieser Welt exhumiert und als solcher zum größten Kinohit aller Zeiten werden. Der Tod als Grenze des künstlichen Willens. Elemente der Elektroästhetik und der digitalen Welt aller Zeiten: Beleuchtung unser täglich Brot. In der häuslichen Szenerie findet der Fremde, das Hotel ist der Mond der Stadt.

In der computeranimierten Evolution der Welt, von der Natur leicht nachspielbar, setzt sich der Beste durch. Wer gewinnt, hat ein Spiel frei.

Gehorchte die Evolution ähnlichen Gesetzen wie die menschliche Gesellschaft – gäbe es keine Evolution und somit keinen Menschen. Die Sonne als legitime natürliche Energiequelle muß durch eine vom Menschen regulier- und steuerbare Sonne, durch einen vom Menschen erzeugten künstlichen Gasball ersetzt werden. Eine zweite Sonne und es herrscht ewiges Licht auf Erden. Künstliche Kometen (Gasexplosionen) im All werden für eine Energieversorgung von außerhalb der Erde sorgen. Die Energie wird nicht mehr wie Kohle, Holz und Strom aus der Erde gebuddelt, sondern wird ebenfalls exteriorisiert. Aus dem zerstörten Leib der Erde wird die Energieversorgung entfernt und ins All verlegt werden. Energieformen jenseits der Elektrizität in einer drahtlosen Welt. Zuerst wird alles vom menschlichen Leib exteriorisiert und dann vom Leib der Erde.

Wir sperrten die Sonne in die Glasbirne. Dort glüht sie, wann wir es wollen. Wir schalten die Sonne ein und aus. In Zukunft werden wir uns eine eigene Sonne schaffen – eine künstliche Energiequelle aus dem All.

Das elektrische Heim – nach den Wasser- und Gasleitungen schließlich die Stromleitungen und das Kabelfernsehen – wird es zum atomaren Heim mit dezentraler Kernenergie?

Die elektrifizierten Kontinente – der erweiterte Erdteil. Das Europafieber sinkt. Das Ende des Eurozentrismus wird die letzte Eurovisionssendung. Schöne europäische Landschaften gibt es nur mehr in den Archiven überseeischer TV-Anstalten – das ist das beklagenswerte der Atompolitik und der Triumph der digitalen Medienästhetik. Österreich wird nur mehr als Briefmarke existieren und sein Kanzler aus der Schublade sprechen.

Dämon Demokratie. GesmbH-Gesellschaft. Ausdehnung der Menschenrechte auf alle Organe des Menschen und alle Organismen der Erde.

Die Erde als Villa Energie oder als erweiterte künstliche Erde. Das Herz der Evolution schlägt weiter, künstlich.

NOA-NOA:

Erich Schindl: Frisbee, gitarre
Heinz Hochrainer: altosax
Thomas Mießgang: baß
Wolfgang Poor: batterie
Peter Weibel: stimme, video
Marco Polo: e-piano, synth, org, tapes


[Quelle: http://90.146.8.18/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/festival_artikel.asp?iProjectID=9341; 21.09.2016]

READ MORE


show all
close all
+
Participants
[1]

No result

+
Archival documents
[1]

     

last modified at 21.09.2016


Art and Research Database - basis wien